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    Auf der Walz
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Auf der Walz
    Von Sascha Westphal

    Manche Traditionen sind einfach mächtiger als alle Zeitläufte. Sie überleben Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte, obwohl eigentlich kaum noch etwas für ihr Fortbestehen spricht. Daraus erwächst dann eine so seltsame wie ungeheuer faszinierende Zeitgleichheit von Gegenwärtigem und Vergangenem. In der post-industriellen Welt des frühen 21. Jahrhunderts scheint es kaum noch einen Platz für die wandernden Handwerksgesellen vergangener Zeiten zu geben. Trotzdem entscheiden sich auch heute immer noch einige junge Handwerker für das Leben auf der Straße. Schon mit ihrer traditionellen Kluft, dem weißen Hemd, dem schwarzen Hut und der Handwerker-Weste, fallen sie aus dem üblichen Stadtbild heraus und stellen es so zugleich in Frage. Das Fremde und das im wahrsten Sinne des Wortes Altmodische ihrer Erscheinung verweist auf einen Riss, der durch die gegenwärtige Wirklichkeit geht und einen Blick auf alternative Lebensformen ermöglicht. Wer wie die junge Filmemacherin Julia Daschner in ihrer Dokumentation „Auf der Walz“, einem überaus bemerkenswerten und vielversprechendem Langfilmdebüt, ganz genau hinsieht, dem wird sich eine parallele Welt eröffnen, in der Freiheit weitaus mehr als nur ein Versprechen der Werbung ist.

    In einem Partykeller feiert die Tischlerin Nina den Abschied von ihrem bisherigen Leben und lässt sich, wie es seit langem Tradition ist, das Ohr durchstechen. Für einen kurzen Moment fließt Blut wie vorher und nachher nur Bier und Schnaps. Der Tischler Dirk ist schon seit einiger Zeit auf der Wanderschaft. Am liebsten zieht er dabei allein durch Wälder, die noch genauso aussehen wie vor hunderten von Jahren. Die Geigenbauerin Kerstin und den Tischler Simon hat die Tippelei bis nach Rumänien geführt, wo in einer kleinen Stadt Gesellen aus zahlreichen europäischen Ländern ein eigenes Zentrum eingerichtet haben, einen Ort der Begegnung und des Dialogs, an dem das Vergangene Zukunft werden kann. Für den Spengler Stefano ist es Zeit in seine Heimatstadt Dresden zurückzugehen. Aber der Gedanke an ein Leben an einem Ort ist ihm fremd geworden. Während er eher zögerlich in den Schoß der Familie zurückkehrt, macht der Zimmerer Tobias Benedikt sich ähnlich zögerlich auf den Weg in die Welt, die für drei Jahre und einen Tag seine Heimat werden soll.

    Julia Daschner ist zusammen mit Nina und Dirk, Kerstin und Simon, Stefano und Tobi auf die Walz gegangen. Sie hat sie auf ihren Wegen übers Land begleitet und so aus nächster Nähe beobachten können. Dabei war sie die ganze Zeit ihr eigenes Filmteam. Mit Hilfe einer eigens für das Projekt entwickelten Tragekonstruktion konnte Julia Daschner mit ihrer 16mm-Kamera immer und überall dabei sein und doch auf Zelluloid drehen, was ihren Bildern eine unverwechselbare Körnung und damit auch eine ganz besondere Textur verleiht. Zudem war sie auch noch ihre eigene Tonmeisterin. Dieser radikale Verzicht auf weitere Mitarbeiter hat eine Nähe zwischen ihr und den freien Gesellinnen und Gesellen erzeugt, durch die der Begriff „Filmhandwerk“ noch einmal eine neue, ganz wörtlich zu nehmende Bedeutung bekommt. „Auf der Walz“ ist damit so etwas wie Julia Daschners Gesellenstück. Aber letztlich beschreibt dieser Begriff den beinahe schon revolutionären Aspekt dieses Erstlingswerks nur unzureichend.

    Diese Form von kinematographischer Handarbeit, die Julia Daschner für sich gewählt hat, stellt schließlich so ziemlich alle üblichen Praktiken filmischen Arbeitens in Frage. Die Freiheit, die die Handwerksgesellinnen und -gesellen auf der Walz jeden Tag von neuem leben, ist zur Freiheit der Filmemacherin geworden. Ähnlich unabhängig sind ansonsten nur Experimentalfilmer; und wie deren Werke fordert auch Julia Daschners Dokumentation einen anderen, freieren Blick von ihrem Publikum. Sie lässt den Betrachter teilhaben an einer seltsamen, praktisch aus der Zeit gefallenen Welt und ihren teils noch viel bizarreren Ritualen.

    Die freien wandernden Gesellinnen und Gesellen haben heute fast schon etwas von einem Geheimbund, zumindest scheint ihre Lebensweise dem außenstehenden Betrachter so rätselhaft und subversiv. Einmal versucht Flurin, ein seit Jahren tippelnder Geselle, dem unerfahrenen Tobi zu erklären, was es mit ihrer Freiheit auf sich hat, dass sie eben nicht nur bestehende Autoritäten in Frage stellt, sondern immer mit einer schon altmodischen Form von Respekt für die anderen einhergeht. In diesem Augenblick fallen Vergangenheit und Gegenwart, die beginnende Neuzeit und die heutige post-industrielle Ära in eins. Beide Zeiten haben eine Form von Konformismus hervorgebracht, dem die Menschen auf der Walz zu entkommen suchen.

    Julia Daschner setzt diesem Freiheitsdrang, dieser Entscheidung für ein Leben jenseits polarer Machtstrukturen in ihren poetischen Landschaftspanoramen und eindringlichen Porträtaufnahmen ein filmisches Denkmal. Dabei lässt sie die Fremdheit dieses Lebens auf der Wanderschaft einfach für sich stehen. Sie sucht nicht nach Antworten und Erklärungen für die Entscheidungen der Gesellinnen und Gesellen. Die sind auch gar nicht nötig. Schließlich definiert sich die Welt, in die „Auf der Walz“ so eindrucksvoll eintaucht, vor allem über ihre Entfernung von unserem stromlinienförmigen Alltag.

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