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    Schneeland
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Schneeland
    Von Carsten Baumgardt

    1000 Folgen „Lindenstraße“ sind genug, um eine Kinoabstinenz zu rechtfertigen. Hans W. Geißendörfer, Schöpfer der gleichermaßen geliebten wie gehassten ARD-Kult/Spießerserie, wagt sich elf Jahre nach seiner Dürrenmatt-Verfilmung „Justiz“ wieder auf die große Leinwand. Kleinlaut kehrt der Augsburger nicht zurück, seine Verfilmung von Elisabeth Rynells preisgekröntem Bestseller „Schneeland“ ist ein schwer verdauliches, wuchtiges, aber glänzend gespieltes und optisch grandioses Drama, das sich der Zuschauer hart erarbeiten muss, um daran Gefallen zu finden.

    Schweden in der Gegenwart: Die Schriftstellerin Elisabeth (Maria Schrader) hat gerade eine schwere Lebenskrise überwunden und ist mit ihrem Mann Ingmar (Martin Feifel) und den drei Kindern in der Einöde Lapplands wieder halbwegs glücklich und psychisch im Gleichgewicht. Als Ingmar bei einem tragischen Unfall ums Leben kommt, bricht Elisabeth emotional völlig zusammen. Sie schickt die Kinder zu ihrer Schwägerin Britta (Caroline Schreiber) und will allein sein. Sie hat mit ihrem Leben abgeschlossen und fährt in die winterliche Einöde hinaus, um zu sterben. Sie läuft und läuft und läuft... bis sie auf einem verlassenen Hof eine erfrorene Leiche im Schnee entdeckt. Im Haus der alten Frau stößt sie auf deren Aufzeichnungen und schwelgt darin... 1937: Ina (Julia Jentsch), so ist ihr Name, hatte eine harte Kindheit. Ihr tyrannischer Vater Knövel (Ulrich Mühe) macht ihr das Leben zur Hölle. Nach dem Tod der Mutter Hilma (Susanne Lothar) prügelt er sie nicht nur, sondern vergewaltigt seine Tochter auch regelmäßig... Der gottesfürchtige Wanderer Aron (Thomas Kretschmann) strandet bei den freundlichen Eheleuten Salomon (Oliver Stokowski) und Helga (Ina Weisse), die ihn und seinen Hund Lurf in ihr Haus aufnehmen. Im Sommer kann sich Aron als Pferdehirt in der Einöde etwas Geld verdienen. Dort stößt er auf Ina, deren isoliertes Heim nicht weit entfernt ist, und verliebt sich in sie...

    Bei der Lindenstraßen-Gegenwart von Hans W. Geißendörfer gerät seine Vergangenheit als Arthousefilmer gern einmal in Vergessenheit. Wichtiger ist aber trotzdem seine Zukunft. Die läutet der Regisseur mit dem schwermütigen Liebes- und Lebensdrama „Schneeland“ ein. „Ich habe versucht, das menschliche Urgestein Sehnsucht, Liebe und Tod auf seine archaische Kraft zu reduzieren. Ich wollte diesmal nicht weggucken, wenn es weh tut“, beschreibt Geißendörfer seine Motivation. Diese Einstellung ist dem Film auch mehr als anzusehen. Zunächst entfaltet er seine Geschichte in drei verschiedenen Handlungssträngen, die rund eine Stunde parallel nebeneinander herlaufen, ehe sie nach und nach verknüpft werden. Wer die Romanvorlage der Schwedin Elisabeth Rynell nicht gelesen hat, muss sich lange gedulden, bis die Handlungen einen ersichtlichen Sinn und Zusammenhang ergeben.

    Bei der Darstellung seines Dramas schont Geißendörfer das Publikum in keiner Minute. Den betörenden Bildern der kargen schwedischen Landschaft, die Kameramann Hans-Günther Bücking grandios einfängt, stellt der Regisseur und Autor eine archaische Wucht der Geschichte entgegen. Hier wird ohne Kompromisse und doppelten Boden gelitten. Geißendörfer guckt bewusst nicht weg, wenn es ans Eingemachte geht. Dies schafft eine bedrückende Intensität, die sich an der Grenze des Erträglichen bewegt. Shooting Star Julia Jentsch („Die fetten Jahre sind vorbei“, „Sophie Scholl - Die letzten Tage“) ist gezwungen, physisch weiter zu gehen, als es die meisten Schauspielerinnen tun würden. Erst muss sie ihr Hinterteil entblößen, um verprügelt zu werden, dann wird sie brutal vergewaltigt, muss den nackten und bewegungsunfähigen Ulrich Mühe mit Stroh von seinen Fäkalien säubern und zu guter Letzt noch in kompletter Nacktheit vor und später mit Thomas Kretschmann agieren. Das alles meistert Jentsch mit begeisterndem, eindringlichem Spiel, das ihr großes Talent herausstellt.

    Ulrich Mühe („Sieben Monde“, „Funny Games“) wird als abgrundtief böser Vater nicht viel weniger abverlangt, darunter auch diverse Nacktszenen. Sein Spiel ist ebenso intensiv und packend wie das von Jentsch. Er schafft es, vom Publikum gehasst zu werden, ohne dabei dem nahe liegenden Overacting zu verfallen. Deutschlands aktueller Mann in Hollywood, Thomas Kretschmann („King Kong“, „Der Pianist“, „U-571“), kann mit einer einfühlsamen Vorstellung als sensibler Wanderer Aron punkten wie auch Oliver Stokowski („Das Experiment“, „U-571“) und Ina Weisse („Sams in Gefahr“) als gutmütige Eheleute. Allein Maria Schrader („Rosenstraße“, „Aimee & Jaguar“) fällt aus dem Rahmen. Sie bekommt es allerdings auch nicht leicht gemacht. Ihre Figur der Elisabeth geht dem Betrachter lange Zeit unheimlich auf die Nerven. Dazu überzieht Schrader ihre Hysterie und wirkt in ihren theatralischen Selbstgesprächen nicht immer glaubhaft. Die Gegenwartsgeschichte will sich nicht so recht mit der Urgewalt der Vergangenheit verbinden. Möglicherweise hätte dem mit 142 Minuten beachtlich langen Film eine knallharte Reduzierung gut getan.

    Trotz der (fast) tadellosen und engagierten Leistungen der Darsteller bleibt ein kleiner Makel haften. Die deutschen Schauspieler, die auch noch unnötigerweise Deutsch schreiben, wirken in der Einöde des schwedischen Lapplands fremd und ethnisch entwurzelt. Erst wenn sich der Zuschauer an diesen Umstand gewöhnt und als Prämisse akzeptiert hat, ist eine volle Würdigung des Vorgetragenen möglich. „Schneeland“ ist alles andere als ein Vergnügen. Dem wuchtigen Drama zu folgen, ist schmerzhaft, aber im Endeffekt lohnt sich die Reise in eine andere Welt dennoch. Hans W. Geißendörfer gelingt bei seinem Comeback zwar nicht der ganz große Wurf, da seine düstere, archaische Geschichte einige Schwächen aufweist, aber die Intensität, die er auf die Leinwand bringt, ist zweifelsfrei beeindruckend. Auf jeden Fall ist in Zukunft wieder mit ihm zu rechnen...

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