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    Obaba
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Obaba
    Von Roderich Reuter

    Wenn es so etwas wie das literarische Werk der baskischen Kultur schlechthin gibt, dann hat Bernardo Atxagas Buch „Obabakoak oder Das Gänsespiel“ wohl die besten Chancen auf diese ehrenvolle Bezeichnung. Atxagas Buch von 1988, das inzwischen schon als Klassiker der baskischen wie spanischen Literatur gilt, ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, denen, obwohl sie ansonsten wenig eint, allen gemeinsam ist, dass ihre Handlung in einem fiktiven baskischen Bergdorf namens „Obaba“ verortet ist. Atxaga, der seine Bücher ausschließlich in baskischer Sprache schreibt, sie dann aber selbst ins Spanische übersetzt, beweist mit diesen Kurzgeschichten ein Faible, das üblicherweise vor allem spanischsprachigen Autoren (und Filmemachern) zugeschrieben wird: die Freude daran, alltägliche Geschichten von der Vergangenheit durch eine gehörige Portion Spiritualität, Magie und Aberglauben so richtig fantastisch zu verklären. Für so eine Art Geschichten zu erzählen, kann man auch den Begriff des „magischen Realismus“ bemühen. Es ist etwas merkwürdig; eine Schwäche für Magie, Obskures und Aberglauben gibt es in fast allen Kulturen. Und viele Menschen haben dementsprechend Interesse an Geschichten, die solch spinnerte Themen behandeln. Aber in letzter Zeit spukt es nirgendwo annähernd so häufig wie im Spanischen Kino. Meistens sind es buchstäblich Geister der Vergangenheit (vgl. Almodovars Volver), die dem Zuschauer hier um die Ohren geschlagen werden. Um solche Geister und um viel Aberglauben dreht sich nun auch der Film „Obaba“ von Montxo Armendáriz, der auf dem erwähnten Bestseller von Atxaga beruht. Das Drama ist dabei ähnlich preisgekrönt wie seine Vorlage: 2005 das erste Mal auf einem Festival gezeigt, hat er seitdem so ziemlich alles gewonnen, was es für einen spanischen Film in Spanien zu gewinnen gibt.

    Die junge Studentin und Großstadtbewohnerin Lourdes (Barbara Lennie) bereist für ein Wochenende das Bergdorf „Obaba“, um einen kleinen Dokumentarfilm über das Leben dort für die Uni zu drehen. Schon auf der Fahrt ins sehr weit abgelegene Dorf bekommt Lourdes eine Ahnung davon, dass es sich bei Obaba um einen Ort voll von Merkwürdigkeiten handelt. Als sie unterwegs nach dem Weg fragt, antwortet ihr der Dorfbewohner Ismael (Hector Colome) lakonisch und eine Eidechse in der Hand haltend, dass Obaba noch „87 Kurven“ entfernt sei. Im Dorf angekommen, wird ihr von der Dorfbewohnerin Begona (Inake Inastorza) sogleich eine Geschichte erzählt: Ihr tauber Bruder Tomas (Txema Blasco) sei nur aus dem Grund taub und schwer von Begriff, weil ihm in Jugendtagen eine Eidechse ins Ohr gesteckt worden sei, die daraufhin das Gehirn angeknabbert hätte. Unter dem Eindruck dieser seltsamen Story beginnt Lourdes damit, der Vergangenheit des Ortes nachzuspüren. Die Dörfler erweisen sich dabei als erstaunlich offen gegenüber der fremden Städterin. Es sind eigentümliche Novellen von Feindschaft und Traurigkeit, aber auch von Mut, die sie ihr zu erzählen haben. Zum Beispiel die Geschichte einer Lehrerin (Pilar López de Ayala), die vergeblich auf eine Nachricht ihres verschollenen Liebhabers wartete, und die sich eines Tages in einen ihrer Schüler (Christian Tardio) verliebt. Oder die eines deutschen Ingenieurs (Peter Lohmeyer), den der Zufall nach Obaba verschlagen hatte, wo er mit seinem Sohn Esteban (Ryan Cameron) lebte und dessen ablehnende Haltung gegenüber dem Katholizismus den Dörflern immer wieder Anlass zur Beschäftigung mit seiner Person gab. In den Bann gezogen von der Exzentrik des Ortes und den Geschichten der Dörfler, lässt Obaba Lourdes bald nicht mehr los, auch nach ihrer Rückkehr in die Großstadt nicht. Sie möchte tiefer in die Geheimnisse und Merkwürdigkeiten des Dorfes eindringen. Ihrer anfänglichen Skeptik, was den dörfischen Aberglauben angeht, weicht die Ahnung, dass hier in den Bergen möglicherweise viel mehr möglich als erklärlich ist...

    Schon Ende der 1980er, nach der ersten Lektüre von „Obabakoak“, spielte Regisseur Armendariz mit dem Gedanken, Atxagas berühmte Kurzgeschichtensammlung zu verfilmen. Dass es bis zur Umsetzung seines Plans stolze 15 Jahre dauerte, ist der Tatsache zu verdanken, dass Armendariz lange Zeit nicht wusste, wie er filmisch die Klippe umschiffen könnte, dass Atxagas Geschichten untereinander fast gar keinen Zusammenhang aufweisen, lediglich allesamt durch den Ort der Handlung geeint sind. Armendariz hielt es für unverzichtbar, den Stoff auf eine Weise umzusetzen, durch die die Filmhandlung eine - seiner Ansicht nach - zuschauerfreundlichere dramaturgische Einheit erhält. Die Möglichkeit eines reinen Episodenfilms über das fiktive Obaba mit einzelnen, voneinander unabhängigen Kapiteln, um auch die Nähe zum ähnlich angelegten Atxaga-Buch zu wahren, schloss er für sich aus. So konzipierte er die Rahmenhandlung um Lourdes, die die gefühlte Hälfte des ganzen Films ausmacht. Dies ist an sich sicher keine schlechte Idee vom Regisseur und Drehbuchautor gewesen. Aber er hätte es mit der Umsetzung selbiger sehr viel besser treffen können. Es ergibt sich nämlich so das Kuriosum, dass die eine Hälfte des Films – nämlich die der Rahmenhandlung – ziemlich durchschnittlich geraten ist, während die andere Hälfte, die aus den filmisch umgesetzten Geschichten der Dorfbewohner besteht, ausgesprochen fantastisch gelungen ist. So gesehen hätte Armendariz es auch nicht so schlecht getroffen, wenn er auf die selbst erdachte Rahmenhandlung komplett verzichtet und sich allein auf die filmische Umsetzung von den superben Episoden aus dem Atxaga-Buch beschränkt hätte.

    Es muss aber erwähnt werden, dass die Szenen mit der Hauptfigur Lourdes nicht gerade deshalb schwächer sind, weil Lourdes in ihnen vorkommt. Vielmehr ist am souveränen Spiel der hübschen Barbara Lennie nämlich gar nichts auszusetzen. Das Problem ist eher die Unausgegorenheit der Ansätze, auf die sich die Rahmengeschichte beschränkt. In dieser findet sich eine unausgegorene Lourdes-Liebesgeschichte, ein unausgegorener Abschnitt über Lourdes´ beginnende Besessenheit vom Mikrokosmos Obaba, Lourdes kommt zu unausgegorenen Ansichten über das Glück und das Leben (à la: „Man kann überall leben, wenn man nur im Herzen glücklich ist.“) und das Ende (wieder mit Lourdes) kommt viel zu plötzlich und ist irgendwie auch – unausgegoren. Aber selbst in diesen Szenen relativiert Javier Aguirresarobes über den ganzen Film exzeptionell gute Kameraführung die Schwächen des Skripts – so schafft es beispielsweise das superb fotografierte Bergpanorama des Baskenlandes, auch Lourdes´ merkwürdige und recht oberflächliche Philosophereien aus dem Off vergessen zu machen.

    Wie viele Ensembles in den spanischen Filmen der vergangenen Jahre liefert auch das von „Obaba“ – und dabei jeder Akteur für sich – eine mehr als respektable schauspielerische Leistung ab. Neben den vielen außerordentlich guten spanischen Mimen in den Nebenrollen – wie zum Beispiel Pilar Lopez de Ayala, die die Dorflehrerin der Vergangenheit Obabas so zurückhaltend wie ausgezeichnet spielt – muss natürlich aus deutscher Sicht unbedingt Peter Lohmeyer (Das Wunder von Bern) erwähnt werden. Lohmeyer spielt den deutschen Ingenieur Werfell, der mit seinem Sohn als Exot im baskischen Dorf lebt, nicht nur bestechend gut, sondern hebt sich im Original durch sein absolut fließend gesprochenes Spanisch sprachlich kaum von seinen Schauspielerkollegen ab.

    „Obaba“ ist aufgrund seiner Bilder, seiner Schauspieler und seiner wunderbar erzählten Episoden im Zentrum, und trotz der erwähnten Schwächen in der Rahmenhandlung, ein spanischer Film weit jenseits des Durchschnitts. Wer etwas übrig hat für das spanische Kino der letzten Jahre, und vielleicht auch optimalerweise ein generelles Interesse an der spanischen (oder der baskischen) Kultur mit ins Kino bringt, kann überhaupt nichts falsch machen, wenn beim nächsten Kinobesuch die Wahl auf „Obaba“ fallen sollte. Für Spanien-Fans wird „Obaba“ in der Tat großes Kino sein. Und für solche, die sich auch der spanischsprachigen Literatur, besonders dem ihr eigenen magischen Realismus verbunden fühlen, ist der Film sogar ein absolutes Muss! Zuschauer, die weder etwas mit Spanien oder der baskischen Literatur am Hut haben, werden sich bei „Obaba“ aber auch nicht gerade langweilen.

    Fazit: Liebe, Leid und Leben in der Wunderwelt eines baskischen Bergdorfes. Trotz kleinerer Schwächen ist „Obaba“ ein äußerst sehenswertes Drama von der iberischen Halbinsel.

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