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    Babooska
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Babooska
    Von Christian Horn

    Tizza Covi und Rainer Frimmel beobachten in ihrem mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilm „Babooska“ das Leben einer Familie, die einen Wanderzirkus betreibt und mit diesem durch Italien reist. Ohne Hast, mit einem Gespür für kleine, wahre Momente und immer das Besondere im Alltäglichen suchend, tasten die beiden Filmemacher sich an eine Lebensart heran, die sich dem Schlagen von Wurzeln entzieht und zahlreiche Entbehrungen, aber auch Bereicherungen mit sich bringt. Lange Plansequenzen geben dem Zuschauer ausreichend Zeit, sich in neue Situationen einzufinden, wobei der Fokus nicht auf der eigentlichen Zirkus-Show, sondern auf dem Zusammenleben der Familie liegt.

    „Babooska“ zeigt ein tristes Italien, ein ungeschminktes jenseits der oft bemühten Urlaubs- und Postkartenromantik. Die Familie der jungen Artistin Babooska lebt auf engstem Raum in einem Wohnwagen, oft ohne fließendes Wasser und Strom. Das Aufbauen sozialer Kontakte abseits der eigenen Familie ist nahezu unmöglich, was zu einem heutzutage immer seltener werdenden Angewiesensein auf die eigene familiäre Gemeinschaft führt. Der Dokumentarfilm verzichtet auf Erklärungen oder Interviews, sondern bildet das Geschehen völlig unkommentiert ab, wodurch er den Zuschauer zu eigenen Reflexionen auffordert. Ein Jahr lang haben Covi und Frimmel den Wanderzirkus begleitet und unter denselben Bedingungen wie die Artisten gelebt. Die Kamera ist bei alltäglichen Problemen dabei, zum Beispiel, wenn die Show immer wieder neu improvisiert werden muss, weil jemand ausfällt, ein Stinktier aus dem Käfig flüchtet oder es Streit mit Dorfbewohnern gibt, die das Zelt nicht vor ihrer Haustür stehen haben wollen. Im Verlauf des Films wird immer deutlicher, dass Babooskas Familie um ihre Existenz regelrecht kämpfen muss. Das Zirkuszelt ist oft nur mit einer Hand voll Zuschauern besetzt und immer wieder erreichen die Artisten Dörfer und kleinere Städte, die geradezu ausgestorben scheinen. Und die Anstrengung des täglichen Kampfes um die eigene Existenz sieht man den Protagonisten auch deutlich an.

    Es fällt auf, dass „Babooska“ nicht – wie zu erwarten wäre – längere Ausschnitte aus den Auftritten im Zirkuszelt zeigt, sondern diese (wie auch die Proben zu den Shows) nur am Rand präsentiert. Das ist eine logische Konsequenz, denn für die Artisten ist die Show zum gewöhnlichen Alltag geworden, sie spielt im Leben der Familie keine besondere Rolle mehr. Die Filmemacher interessieren sich viel mehr für das Nomaden-ähnliche Lebenskonzept der Zirkusleute, das auf Improvisation basiert und jeden Tag neue Herausforderungen bereithält. Eine Szene, die dieses Lebensgefühl sehr gut einfängt ist die 21. Geburtstagsfeier Babooskas am Ende des Dokumentarfilms, die das Geschehen rahmt (die Exposition zeigt den 20. Geburtstag der jungen Frau). Da gibt es einen Kuchen mit nur einer Kerze und Babooska zündet die Kerze 21 Mal an und bläst sie 21 Mal aus – ein treffendes Bild für das Neu-Erfinden, das wie selbstverständlich zum Leben der Gemeinschaft gehört. Und dass die Regisseure im Anschluss an diese Szene eine alte Home-Videoaufnahme von Babooskas zehnter Geburtstagsfeier montieren, an welcher der Kuchen noch zehn Kerzen hatte und es mehr Gäste gab, macht eine weitere Erkenntnis des Films deutlich: dass es für den Wanderzirkus und seine Betreiber mal bessere Zeiten gegeben hat, und dass ein Lebensentwurf wie der von Babooskas Familie in Anbetracht immer größer werdender Eventshows zwangsläufig ein Auslaufmodell ist. Aber dieser Erkenntnis wollen (oder können) die Artisten sich nicht stellen.

    Am nachhaltigsten prägt sich das jüngste Mitglied der Familie ein, Babooskas Tochter Azzura. Sie besucht im Verlauf des Jahres 28 verschiedene Schulen und durch das Umherreisen ist es ihr unmöglich, Freunde in ihrem Alter zu finden. Viele Szenen zeigen das Mädchen, während es alleine spielt und die Frage drängt sich auf, was aus ihr werden wird. „Babooska“ zeigt ohne falschen Pathos das Leben moderner Nomaden, die nicht ankommen wollen und deren Leben eine einzige lange Reise ist. Der Dokumentarfilm porträtiert einen Lebensentwurf, der sich den Anforderungen und Normen der Gesellschaft widersetzt und ein intensives, reiches Leben ermöglicht, das auf der anderen Seite von zahlreichen Entbehrungen gekennzeichnet ist. Tizza Covi und Rainer Frimmel entwerfen anhand vieler Episoden ein vielschichtiges Bild der Familie, wobei sie dem Zuschauer keine Meinung aufdrängen, sondern ihm die Möglichkeit geben, selbst zu denken. „Babooska“ ist eine lebendige und ehrliche Road Movie-Dokumentation, an der Wim Wenders seine Freude hätte.

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