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    The Fall
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    The Fall
    Von Andreas R. Becker

    Farbsatte Phantasie und trübe Tristesse wechselten sich bereits im preisgekrönten Video R.E.M.-Welthit „Losing My Religion“ ab, das den Regisseur Tarsem Singh auf die Bühne internationaler Bekanntheit hievte. In seinem ersten Langfilm verwandelte der sich bis dahin vor allem als Videoclipmacher verdingende Inder diese Ansätze zum ersten Mal in Bilder epischer Breite: Der mit Jennifer Lopez und Vince Vaughn prominent besetzte Psychothriller The Cell besticht durch eine im wörtlichen und übertragenden Sinne schmerzhaft-schöne Farb-Gewalt. 2006 feierte Singhs zweiter Spielfilm „The Fall“ Premiere auf dem Toronto Film Festival. Nun kommt er mit zweijähriger Verspätung auch in die deutschen Kinos.

    In einem Sanatorium im Los Angeles der 1920er Jahre erfindet der verletzte Hollywood-Stuntman Roy Walker (Lee Pace, serie,Pushing Daisies) für die achtjährige Alexandria (Catinca Untaru) eine mystische Geschichte um fünf sehr unterschiedliche Helden auf einem Rachefeldzug. Auch dieses Mal stellt Singh wieder zwei parallele Welten gegenüber: die eine bunt und bombastisch, die andere bedrohlich und bitter. Wieder verschwimmen die Grenzen, wieder ist das Ganze eindrucksvoll anzusehen und wieder fehlt – vor allem in der ersten Hälfte – der narrative Schliff. Nichtsdestoweniger entwickelt sich „The Fall“ zum Ende hin zu einem grausam-packenden Märchen wie aus Tausendundeiner Nacht, das in betörenden Bildern die zerstörerische und verbindende Macht der Liebe und – nicht zuletzt! – des (filmischen) Geschichtenerzählens zelebriert.

    Für Roy ist die Geschichte, die er seiner kleinen, rumänischen, nur gebrochen Englisch sprechenden Besucherin erzählt, zunächst nur Mittel zum Zweck: Sie soll für ihn Morphium besorgen. Ans Bett gefesselt, schwer verletzt an Körper und Seele, hat er jeden Lebensmut verloren und sieht nur noch im Selbstmord einen Ausweg. Nach einem kurzen Abstecher in die römische Antike erfindet er deshalb das Abenteuer um fünf bunt zusammengewürfelte Helden, das er Alexandria in Episoden als Belohnung für ihre Besorgungen erzählt: Der ehemalige Sklave Otta Benga (Marcus Wesley), der italienische Sprengstoffexperte Luigi (Robin Smith), der Inder (Jeetu Verma) [1], der stark verfremdete Charles Darwin (Leo Bill) und der maskierte Bandit (Lee Pace in einer Doppelrolle) sind die fünf Männer, die gemeinsam Rache an dem bösen Governor Odious (Daniel Caltagirone) üben wollen.

    Diese Jagd erstreckt sich – in Alexandrias Phantasie – quer durch alle Kontinente und Epochen: „The Fall“ ist ein wahres Kind seines Zeitalters, das dem von Frederic Jameson beschriebenen Stil des „Pastiche“ sehr nahe kommt: Raum und Zeit sind implodiert, herausgekommen ist eine hybride Phantasiewelt, in der fünf Helden aus fünf Epochen zugleich in Italien und Indien, Indonesien und Brasilien, Argentinien und Ägypten mit Schwertern, List und Sprengstoff einer Personifikation des Bösen zu Leibe rücken.

    Während die leise, düstere und geheimnisvolle Umgebung des Sanatoriums stets nach Verfall riecht, leuchtet die abenteuerliche Phantasiewelt im Rot, Blau, Grün und Gelb hyper-ästhetischer Bilder. Die imaginierte Welt bleibt dabei trotz ihrer buchstäblich bunten Mischung erstaunlich stimmig und ist mit einigen – teils sogar inhaltlich bedeutungsvollen – Match Cuts nahtlos ineinander verwoben. Neben diesen technischen Merkmalen kommt auch die Körperschau nicht zu kurz. Eindrucksvoll und makellos glänzen die fein definierten Muskeln der Abenteurer im Schweiße ihrer glorreichen Heldentaten. Ebenso archetypisch sind dann auch die pechschwarzen Schergen, die den Weg zu Odious säumen und mit brachialer Gewalt gegen alles vorgehen, was ihnen im Weg steht. Anonymisiert verbergen sie ihr Gesicht hinter einem schweißmaskenartigen Helm. Und nicht nur dieser Helm, sondern letztlich sämtliche Figuren, die sich in Alexandrias Traumwelt bewegen, finden sich auch im Sanatoriums wieder, was die Grenzen zwischen realer und imaginierter Welt zusehends verschwimmen lässt.

    Die Beziehung zwischen Lee Pace als Roy und der bezaubernden Entdeckung Catinca Untaru in der Rolle der aufgeweckten Alexandria entwickelt sich während des Geschichtenerzählens zu einer starken Bindung, die ihre Wirkung auf den Zuschauer nicht verfehlt. Den Film tragen in erster Linie dennoch zweifelsohne die opulenten Bilder und die überhöhten Darstellungen der ungleichen Helden, die selbstlos für das hehre Ziel kämpfen. Untermalt von überwiegend klassischer Musik, ist Roys Geschichte ein einzigartiges, modernes Märchen, irgendwie aus Tausendundeiner Nacht und irgendwie auch nicht.

    Es dauert etwas, bis „The Fall“ nach einem schönen Einstieg wieder in Fahrt kommt. Dafür kommt man dann aber nicht umhin, in der letzten Hälfte atemlos die unerwartet heftigen – und auch brutalen – Ereignisse zu verfolgen, um dann mit einer Prise Hoffnung im Bauch zufrieden das Kino zu verlassen.

    ______________

    [1] Wenn Roy in der Originalfassung vom „Indian“ spricht, meint er eigentlich einen klassischen Indianer. In Alexandrias Phantasie, die auf einem kindlichen Wortschatz basiert, wird aus diesem „Indian“ eben ein Inder. Das Wort ist im Englischen doppelt besetzt.

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