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    Wilde Unschuld
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Wilde Unschuld
    Von Christian Schön

    Unser Leben ist endlich. Dieser Fakt beschäftigt Menschen seit jeher und bietet immer wieder erneut Anlass darüber in Filmen, Büchern oder Bildern zu reflektieren. Normalerweise sind die Natur, Gott oder Aliens für den Tod von Menschen verantwortlich. Doch nicht selten schreitet der Mensch auch selbst zur Tat und entscheidet darüber, das Leben eines Anderen jäh zu beenden. Morde gehören seit dem Beginn der Menschheit zu einem wichtigen Thema, das in der Kunst seinen Widerhall findet. Nun wurden in der Filmgeschichte verschiedene Perspektiven auf das Thema immer neu variiert. Einen entscheidenden Einschnitt bildet dabei Fritz Langs Schwarz/Weiß-Klassiker M - Eine Stadt sucht einen Mörder. Bis dahin war es vor allem wichtig, dass der Moral und dem Recht genüge getan, der Mörder gefunden und seine Tat gesühnt wird. Sicher durch die großartige Schauspielkunst eines Peter Lorres begünstigt, kommt in „M“ eine neue Komponente hinzu, die in den Folgejahren bis hin zu Das Schweigen der Lämmer eine große Karriere machen wird. Man begann sich für die Psyche, für die inneren Beweggründe des Mörders zu interessieren. Auf diese Weise wurde versucht, diesen unnachvollziehbaren, grausamen Akt der Auslöschung eines anderen Lebens begreifbar, nachfühlbar zu machen. In gewisser Hinsicht steht auch „Wilde Unschuld“ in der Linie dieser Filme, die das Profil eines Verbrechers nachzeichnen. Das Zeug zum Klassiker hat Tom Kalins Drama aber bei weitem nicht, da weder auf der Seite der Regie, dem Drehbuch oder dem Schauspiel mehr als nur Durchschnittliches geleistet wird.

    Der Filmhandlung liegt ein Mordfall zu Grunde, der am 11. November 1972 tatsächlich stattgefunden hat. Barbara Baekeland wurde damals von ihrem 27 Jahre alten Sohn Anthony mit einem Messer in ihrer gemeinsamen Wohnung in London erstochen.

    Die Geschichte von „Wilde Unschuld“ setzt in der frühen Kindheit von Tony (Eddie Redmayne) ein. Die Kinderstube von Tony ist bereits durch die Eskapaden seiner Mutter Barbara (Julianne Moore) getrübt. Das ganze Familienleben wird von Barbara gleich einem Schmierentheater inszeniert, in dem die Etikette immer mehr Wichtigkeit erlangt. Durch die große Erbschaft aus dem Industriebetrieb des Großvaters von Familienoberhaupt Brooks Baekeland (Stephen Dillane) sind die Wege in die obere Gesellschaftsschicht auf Dauer geebnet. Doch von Beginn an fällt Barbara aus dem Rahmen. Durch ihre Herkunft und ihre Unwissenheit über die richtigen Verhaltensweisen in der Bohème isoliert sie sich und Tony mehr von solchen Kreisen, als dass sie Eingang darin finden. Als Tony im Jugendalter erste homosexuelle Regungen auslebt, distanziert sich Vater Brook ebenfalls immer mehr von seinem Sohn. Der endgültige Bruch zwischen den beiden vollzieht sich, als Brooks mit der ersten ernsthaften Liebschaft, die Tony als junger Erwachsener zu einer Frau hat, durchbrennt. Die Liebe seiner Mutter zu Tony ist jedoch über alle Vorkommnisse erhaben, und verstärkt sich zusehends. Nach und nach verliert Tony jeglichen festen Halt und irrt zwischen Drogenkonsum und homosexuellen Beziehungen umher. Als Barbara sich ebenfalls einen neuen, viel jüngeren Mann an ihre Seite holt, fallen alle Schranken der Sittlichkeit, da dieser nicht nur an Tonys Mutter, sondern auch an Tony selbst interessiert ist.

    Ein Kontext, der sich unmittelbar auftut, wenn man sich den Handlungsverlauf vor Augen führt, ist die Freudsche Psychoanalyse. Es finden sich eigentlich alle wesentlichen Stationen wieder, die man zu einer Vulgär-Analyse benötigt: die gestörte Kindheit - in der ohnehin alles Übel begraben liegt, steht am Beginn des Films. Dort werden auch gleich alle Konflikte, die später im größeren Ausmaß auf Tony hereinbrechen werden, vorab geprobt. In der Adoleszenz fallen die ersten homosexuellen Tendenzen und die Schmach, die Tony durch seine Mutter erleidet, auf. Die unsteten Beziehungen der Folgezeit, der Drogenkonsum und die fehlende Vaterliebe vervollständigen das Bild einer nicht ganz reibungslos ablaufenden Persönlichkeitsentwicklung. Dieser schwierigen Ausgangslage wird durch die inzestuöse Beziehung zur Mutter die Krone aufgesetzt. Lediglich der Vatermord fehlt zum Glück. Aber ausreichend ist es dennoch: Ein Mörder ist geboren. Die Motive für seine Tat sind im Grunde geklärt. Nachdem der Mordfall der echten Barbara Baekeland in den 70ern für einiges Aufsehen sorgte, äußerte ein Freund der Familie seine Bedenken, ob von einem klassischen Mord gesprochen werden könnte. Vielmehr könne es auch sein, dass Barbara ihren Sohn dazu benutzt hat, ihren versuchten Selbstmord mit seiner Hilfe zu verwirklichen. Von dieser Ambivalenz des Falls bleibt in „Wilde Unschuld“ durch die klischeehaften Konflikte annähernd nichts übrig. Nimmt man den Titel des Films beim Wort, so fehlt in der Darstellung eben gerade die wilde Unschuld.

    Ein wesentliches Problem, mit dem „Wilde Unschuld“ viel verliert, ist die Unentschiedenheit, wer eigentlich der (Anti-)Held der ansonsten klassisch aufgebauten Geschichte ist. Damit einhergeht, dass die Erzählperspektive öfter ohne erkennbaren Grund wechselt und ihren Charakter gänzlich verändert. Zwar ist in den meisten Szenen das Geschehen um die Figur von Tony konzentriert, doch wird man auch sehr häufig Zeuge von Episoden, die sich unabhängig von ihm ereignen. Richtig sinnlos wird dieses Verwirrspiel, wenn man die Stimme von Tony aus dem Off hört, die über den Verlauf der Geschehnisse reflektiert. Dieses Stilmittel steht losgelöst im Raum, da es mit der Außenperspektive des restlichen Films unvereinbar ist. Wenn man einen Grund für diese Unstimmigkeit sucht, wird man schnell fündig, wirft man einen Blick auf die Buchvorlage, auf der der Film basiert. „Savage Grace“ von Natalie Robins und Steve Aronson versucht, den Mordfall mitsamt der Familiengeschichte der Baekelands über drei Generationen hinweg so genau wie möglich zu rekonstruieren. Das Autorenduo arbeitet dabei sehr collagenartig. Zeitzeugen, Beweismaterial, Photographien, Briefe, etc. werden in den Textfluss eingearbeitet, um ein Höchstmaß an Authentizität zu erzeugen. Bei der Filmadaption führte dies nun dazu, dass das Konglomerat von Textbausteinen allzu unreflektiert zu einer stringenten Handlung zusammengeschustert wurde. Insofern ist „Wilde Unschuld“ auch die Beweisführung, die gegen die Beckettsche Frage: „Wen kümmert’s, wer spricht?“ ins Feld zieht.

    Ganz im Gegensatz zu Tom Kalins erstem Spielfilm „Swoon“, der 1992 auf sechs Festivals immerhin sechs Preise für sich verbuchen konnte, lief „Wilde Unschuld“ auf nur drei Festivals, ohne dass groß von ihm Notiz genommen wurde. Kalin, der sich nach seinem Erstling „Swoon“ vor allem einen Namen als Experimentalfilmer gemacht hat, ist mit seinen Videoarbeiten weltweit in den wichtigen Sammlungen der großen Museen vertreten. Mit seinem zweiten Kinofilm zeigt sich der Videokünstler allzu konventionell. Man vermisst vor allem eine eigenständige Bildsprache oder zumindest eine, die sich von einer solchen unterscheidet, die auch in einem besseren Fernsehfilm zum Einsatz kommen könnte. Denn so spektakulär sich der Plot des Films auch auf den ersten Anhieb anhören mag – Drogen, Homosexualität, Inzest, Mord – so unscheinbar und einfallslos ist sie von Kalin in Szene gesetzt worden. Auf einem ähnlich mittelmäßigen Niveau lässt sich die Riege der Schauspieler ein. Julianne Moore (Magnolia, The Hours, Boogie Nights) versucht zwar, der schwierigen Figur der kapriziös-hysterischen Barbara Baekeland einigermaßen viele Facetten abzugewinnen, und doch wirkt sie in ihrer Rolle uninspiriert. Im Vergleich dazu katastrophaler muss die Besetzung des Tony mit Eddie Redmayne (Der gute Hirte, Elizabeth: Das goldene Königreich) bewertet werden, der sich als Charakterschauspieler hier als nur sehr bedingt geeignet erweist.

    Das alles kommt einer Grundstimmung zugute, die in „Wilde Unschuld“ bis zum Exzess zelebriert wird. Die Oberschicht, in die es Barbara Baekeland so sehr zieht, bietet mit ihrer Oberflächlichkeit keinen Boden, in dem sie und Tony Halt finden können. Den nihilistisch-dekadenten Zug dieses Lebens atmet der Film bis zur letzten Sekunde. Wer nach Tragik und Tiefe sucht, wird hier mit einer Seifenoper konfrontiert, die sich jeder echten Emotion mit allen Kräften verwehrt.

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