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    Wholetrain
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Wholetrain
    Von Jörn Schulz

    Als 1982 der einflussreiche Dokumentarfilm „Wild Style“ von Charlie Ahearn über die Leinwände der Nation flimmerte, wurde es selbst dem Letzten klar: HipHop, Breakdance und besonders die eng damit verbundene Graffitikultur waren auf dem besten Wege sich zu einer der dominantesten und populärsten Jugendbewegungen der damaligen Zeit zu entwickeln. Und so kam es: Anfangs nur in New York vorkommend schwappte der Trend nach Europa und fand in fast allen Großstädten begeisterte Nachahmer. Graue Häuserwände wurden bunt. Heute, gut 20 Jahre danach, wird Graffiti als Jugendkultur zwar von vielen tot gesagt; dass dem aber nicht so ist, beweist ein Blick in eine der deutschen Großstädte: Es wird nach wie vor fleißig gesprüht. Mal mehr, mal minder talentiert. Wie es heute in der Szene zugeht, was geblieben ist von den Anfängen, von der Old School, hat Regisseur und Drehbuchautor Florian Gaag zu einem Spielfilm verdichtet. Das Sprayerdrama „Wholetrain“ konstruiert authentisch wirkende Bilder der Graffiti-Szene und erzählt eine klassische Sprühergeschichte – den Kampf zweier rivalisierender Crews. Dabei glänzt der Film zwar nicht mit einer erzählerischen Meisterleistung, kann aber auf anderen Gebieten punkten.

    Die Handlung des Films ist schnell erzählt: David (Mike Adler), Tino (Florian Renner) und Elyas (Elyas M’Barek) sind Freunde und teilen eine gemeinsame Leidenschaft: das Graffitisprühen, in der Szene auch bekannt als writen. Zu ihren bevorzugten „Leinwänden“ gehören Häuserwände, Straßenunterführungen und natürlich S- und U-Bahnen. Für ihr Hobby opfern sie nicht nur jeden Euro, sondern gehen auch schludrig mit ihrem sozialen Umfeld um. Tino vernachlässigt das eigene Kind, Elyas lässt den Vater schon mal allein im Dönerrestaurant sitzen, weil er sprühen muss und David findet keinen Gefallen daran, arbeiten zu gehen. Zusammen mit ein paar anderen Kumpels haben sie die Writer-Crew KSB (Keep Steel Burning) gegründet, die ihr Stadtviertel und die Graffitis vehement gegen andere Sprayer verteidigen. Eines Tages jedoch betritt eine weitere Crew die Szene und fordert sie heraus. Die Bilder der Neuen sind komplexer, bunter, größer – einfach krasser. Um ihren Gebietsanspruch zu behaupten, plant die KSB-Crew ein Meisterwerk, im Fachjargong, den totalen „Burner“. Sie wollen einen ganzen Zug besprühen, einen Wholetrain machen. Doch durch ein unvorhergesehenes Ereignis kommt alles anders.

    Wer sich ein wenig in der Graffiti-Szene auskennt, wird an diesem Film zu schätzen wissen, wie lebensnah Florian Gaag die Wiedergabe des Milieus gelungen ist. Gezeigt werden Writer, die mit voller Konzentration zu Hause über ihren Skizzen sitzen und diese verfeinern. Dabei hören sie selbst zusammengestellte Kassetten, die aus der überdimensionalen Beatbox schallen. HipHop rules! Zur Entspannung wird das eine oder andere Tütchen geraucht; vor allem Spaß soll die Sache bringen. Und Anerkennung natürlich. Diese so wichtige Motivation wird im Verlauf des Films gut heraus gearbeitet, denn besonders in dieser Szene geht die künstlerische Selbstverwirklichung auch immer mit den Egotrips ihrer Künstler einher. Untrennbar mit dem Sprühen verbunden ist natürlich der Nervenkitzel, der Adrenalinkick beim „Verzieren“ fremden oder öffentlichen Eigentums. Doch die Bilder dienen nicht nur der Markierung des Reviers; sie können auch als Versuche verstanden werden, Schicksalsschläge zu verarbeiten. So läuft David nach einem schmerzlichen Vorfall durch die Stadt und hinterlässt überall mit einem schwarzen, fetten Marker eine Botschaft, die Erleichterung bringen soll. Die Perspektive, die der Regisseur, der ehemals selbst zur Szene gehörte, aufzeigen will, ist klar: Graffitis sind nicht bloß Schmierereien. Hinter den tags (Initialien), bombs und pieces (komplexe Bilder) steckt Bedeutung. Graffitikultur ist vielschichtig. Und es gelingt Gaag, das darzustellen, ohne dabei ins Klischeehafte abzudriften.

    Ein weiterer Pluspunkt kann für den wirklich fetten Soundtrack des Films vergeben werden. Diesen hat Florian Gaag selbst produziert und zusammen mit MCees wie KRS-One, Tame One und El Da Sensei aufgenommen, die ebenfalls aus der Graffiti-Szene stammen und wissen, wovon sie rappen, wenn es heißt: We’re doin‘ a wholetrain. Die Handkamera, die von Christian Rein bedient wurde, liefert wacklige, unruhige und damit dem Thema angemessene Bilder. Das Gefühl sich inmitten der KSB-Crew zu befinden kommt auf. Für eine Low-Budget-Produktion macht der Film auf der technischen Ebene eine gute Figur.

    Weniger überzeugend ist allerdings die erzählerische Ebene. Der Plot ist simpel gestrickt; die Reflektionstiefe der einzelnen Personen lässt zu wünschen übrig. Wir sehen adoleszente Jungerwachsene, die in den Tag hineinleben und wenig bis gar nicht über ihre aktuelle soziale Lage nachdenken, sich nicht äußern, wie es in ihnen drin aussieht. David z.B., der klare und rationale Kopf der Gruppe, scheint regelrecht bockig zu sein, auf den Mann vom Sozialamt, der ihm letztlich nur helfen will, eine passende Stelle zu finden. Nach dem Pflichttermin geht’s wieder ans Sprühen. Viel mehr verrät der Film dem Zuschauer nicht über Davids Lebensgeschichte. Ein weiterer Knackpunkt: Kinobesucher, die des Graffiti-Slangs nicht mächtig sind oder mit dem Denglisch der heutigen Jugend nichts anfangen können, sehen sich in Teilen des Films eventuell einer kleinen Sprachbarriere gegenüber. Da „Wholetrain“ möglichst authentisch wirken möchte, wird gequasselt wie es in der Szene üblich ist. Und das ist nicht immer verständlich, denn eine Funktion von Jugendsprache ist ja gerade, sich von der Welt der Erwachsenen zu distanzieren.

    Was ist Graffiti? Ist es Kunst? Oder die markante Kommunikationsform einer breiten Subkultur? Oder vielleicht doch mehrheitlich das optische Geschrei unerzogener Kinder und damit Sachbeschädigung? Wie auch immer man die schwarzen und bunten Graffitis an Hauswänden, Bahnen und Mauern deuten möchte – „Wholetrain“ gibt aus der Sicht eines ehemaligen Writers eine mögliche Antwort. Er zeigt, dass bunte und komplexe Bilder, die vielleicht von vielen geduldet werden, untrennbar sind mit den schwarzen Reviermarkierungen, die wohl mehrheitlich als chaotisches Gekritzel angesehen werden. Aber beide Arten von Graffitis werden von den selben Personen fabriziert. Die Grenzen sind fließend. Es ist die Stärke des Films einen Einblick in die Graffitiszene und mögliche Erklärungsansätze für das teils chaotisch anmutende Zeichenwirrwarr zu geben. Fakt ist: Nach „Wholetrain“ wird man die Graffitis seiner Stadt auf jeden Fall mit anderen Augen betrachten. Ob man sie deswegen gutheißt, muss jeder für sich selbst entscheiden.

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