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    London to Brighton
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    London to Brighton
    Von Christoph Petersen

    Eine öffentliche Toilette irgendwo in London. Hier verstecken sich eine übel zugerichtete Prostituierte und ein junges Mädchen mit verschmiertem Lippenstift. Die beiden haben vor irgendetwas Angst, doch es wird noch einige Zeit dauern, bis auch der Zuschauer ihre Vorgeschichte erfährt. Denn auch wenn diese Szene die erste aus Paul Andrew Williams Gangster-Drama „London To Brighton“ ist, ist sie doch nicht der Anfang der Story. Vielmehr ordnet Williams seine filmischen Bruchstücke gekonnt um jenen blutigen Zwischenfall an, der die beiden Frauen erst in ihre missliche Lage brachte. Selbst wenn diese dramaturgischen Freiheiten im ersten Moment darauf hindeuten mögen, dass „London To Brighton“ in der Tradition der Werke eines Guy Ritchie (Snatch, Revolver), welche das britische Gangsterkino der vergangenen Jahre maßgeblich bestimmten, stehen könnte, ist eigentlich das genaue Gegenteil der Fall. Wo Ritchie stylische, zynische, beinahe schon comichafte Gewaltorgien feiert, ist Williams ein hochemotionales Stück Kino gelungen, das sich weniger auf inszenatorischen Schnickschnack, dafür aber umso mehr auf seine einfach echt wirkenden Charaktere konzentriert. So ist „London To Brighton“ - vor allem dank der grandiosen Darsteller-Leistungen – ebenso spannend wie mitreißend geraten.

    Als der kleine Zuhälter Derek (Johnny Harris) vom großen Gangsterboss Duncan Allen (Alexander Morton) den Auftrag bekommt, eine kindliche Prostituierte für dessen perverse Sexspielchen zu besorgen, kuscht dieser sofort. Doch er macht sich die Hände nicht selber dreckig, sondern weist eine seiner Nutten, die gutherzige Kelly (Lorraine Stanley), an, irgendwo eine minderjährige Ausreißerin für ihn aufzutreiben. Diese findet sich in der elfjährigen Joanne (Georgia Groome), die vor ihren Eltern davongelaufen ist und nun in Bahnhöfen bettelt. Für einhundert Pfund willigt sie ein, es mit ihrem Freier zu machen. Doch die Sache geht schief. Als Duncan sich an der gefesselten Joanne mit einem Messer zu schaffen macht, schreitet Kelly ein. Die Auseinandersetzung endet mit Duncans Tod. Während Kelly und Joanne gemeinsam aus London nach Brighton fliehen, knöpft sich Duncans Sohn Stuart (Sam Spurell) Derek vor. Er gibt ihm 24 Stunden Zeit, um die Nutte und das Mädchen wieder ranzuschaffen, ansonsten will er Derek persönlich behandeln. Und der kleine Schnitt mit einem Rasiermesser deutet nur ganz leise an, welche Qualen den geängstigten Zuhälter dann wohl erwarten würden...

    Nach Jahren der ewig selben coolen Sprüche, den immer gleichen klischeehaften Charakteren, drohte sich das mittlerweile eh schon ein Schattendasein fristende Gangster-Genre endgültig tot zu laufen. Nachdem Guy Ritchie mit „Bube Dame König grAs“ vor beinahe zehn Jahren frisches Blut in das Genre gepumpt hatte, nutzte sich seine Herangehensweise aufgrund der zahlreichen untalentierten Nachahmer zuletzt immer schneller ab. Da ist es mehr als erfrischend, dass mit „London To Brighton“ nun der erste Schritt in Richtung einer bitter nötigen Kehrtwendung gemacht ist. Weg von den durch und durch zynischen, zu reinen Kunstfiguren stilisierten Figuren der jüngeren Vergangenheit hat Williams den Mut, mal wieder so etwas wie „echte“ Menschen, für deren Schicksal man sich wirklich interessiert, in seinem Film zu zeigen. So funktioniert „London To Brighton“ zugleich als spannender Gangster-Thriller, als hochemotionales Independent-Drama und als bewegende Sozialstudie. Gewalt wird hier zwar nur sehr dosiert als Stilmittel eingesetzt, aber da diese dann auch nie in eine comichafte Überhöhung abgleitet, sondern stattdessen immer nachvollziehbar bleibt, wirken die wenigen harten Szenen nur um so länger nach. Ähnlich verhält es sich mit der krassen Thematik rund um die Beinahe-Vergewaltigung der elfjährigen Joanne. Auch diese schiebt sich nie an den Charakteren vorbei in den Vordergrund, trifft aber dennoch voll ins Schwarze. Die einzigen beiden kleinen Überbleibsel des hippen, aber gefühlsarmen modernen Gangster-Kinos sind so die verschachtelte Erzählform und die überraschende Schlusswendung – doch beides passt sich so stimmig in den Gesamtfilm mit ein, dass man ihm hierfür wahrlich keine Vorhaltungen machen möchte.

    Daran, dass „London To Brighton“ vor allem auf der emotionalen Ebene so hervorragend funktioniert, haben auch die drei Hauptdarsteller einen nicht zu unterschätzenden Anteil. Lorrain Stanley spielt als Kelly zwar eine Rolle („Nutte mit Herz“), die es in der Filmgeschichte nun nicht unbedingt zum ersten Mal gibt (zuletzt Vera Farmiga in Einbruch und Diebstahl), doch selten ist die Darstellung so glaubhaft und berührend wie hier ausgefallen. Auch wenn sie schlussendlich nur Gutes tut, wirkt ihr Charakter nichtsdestotrotz ungeheuer authentisch. Und dass, obwohl Stanley mit Ausnahme von Williams Debüt-Kurzfilm „Royalty“ bisher nur kleinere Nebenrollen innehatte. Wenn sich ein harter Gangster plötzlich als Feigling herausstellt, gleiten die Darstellungen in aller Regel ins Komödienfach ab. Nicht so bei Johnny Harris: Auch wenn er sich als Zuhälter Derek zitternd an seine Schrotflinte klammert, bleibt sein Spiel konsequent ernsthaft. Absolutes Highlight des Casts ist und bleibt aber die 14-jährige Georgia Groome. Joanne ist ihre erste und bisher einzige Rolle überhaupt. Und trotzdem liefert sie eine dermaßen intensiv-ergreifende Performance ab, dass dem Zuschauer in den besten Momenten die Spucke wegbleibt.

    Fazit: „London to Brighton“ ist mehr als nur ein beeindruckendes Kinodebüt für Regisseur/Autor Paul Andrew Williams, er ist zugleich auch ein riesiger Schritt in die richtige Richtung für die zuletzt doch eher schwächelnde britische Independent-Szene. Die Latte an Lobeshymnen, mit denen der Film nach seinen bisherigen Festival-Aufführungen überschüttet wurde, erweisen sich als durchaus berechtigt.

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