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    Versailles
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Versailles
    Von Sascha Westphal

    Heute ist das Prunkschloss von Versailles mit seinen prächtigen Gärten vor allem eine Touristenattraktion. Tausende werden hier Woche für Woche durchgeschleust und können sich am Glanz des Absolutismus erfreuen. Frankreich ist eben nicht nur die Nation der großen Revolution von 1789, es ist auch ein Land, in dem aristokratische und monarchische Ideen wie Strukturen zumindest unterschwellig immer noch eine gewaltige Bedeutung haben. Als Disney-Land der Monarchie hat Versailles dabei etwas fast schon Irreales. Genau darauf spielt der französische Drehbuchautor und Regisseur Pierre Schoeller mit dem letztlich fast absurden Titel seines Kinodebüts an. Dass er sein märchenhaftes und zugleich so dezidiert sozialrealistisches Drama um einen Aussteiger, eine Obdachlose und ihren fünfjährigen Sohn „Versailles" genannt hat, ist dabei mehr als nur eine Provokation. Schon mit dieser Entscheidung verweist er auf den Riss, der durch die französische Gesellschaft geht und den kein noch so perfekter Garten und kein noch so perfekt präsentiertes Baudenkmal kitten können.

    Nina (Judith Chemla, "La Princesse De Montpensier") lebt nun schon seit einiger Zeit mit ihrem fünfjährigen Sohn Enzo (Max Baissette de Malglaive, "L' Immortel") auf der Straße. Die Hilfe, die ihr Sozialarbeiter anbieten, weist sie meist zurück. Erst ein Artikel, den sie zufällig in einer alten Zeitung entdeckt, lässt Nina umdenken. Die Schlagzeile „Arbeitslosigkeit ist kein Schicksal" berührt etwas in ihr, von dem sie zuvor selbst keine Ahnung hatte. Auf dem Weg zu der Frau, die in dem Artikel porträtiert wurde, landet sie zusammen mit Enzo in einem Wald in der Nähe von Versailles. Dort begegnet sie dem Aussteiger Damien (Guillaume Depardieu, "Fear(s) Of The Dark"), der sich in dem Wald eine Hütte aus Brettern und Pappe errichtet hat. Die beiden verbringen eine Nacht zusammen. Dann verschwindet Nina ohne ein Wort und lässt Enzo bei Damien zurück. Zunächst möchte er den Jungen so schnell wie möglich wieder loswerden. Er passt einfach nicht in seinen Lebensentwurf. Doch der erste Versuch, ihn auszusetzen, scheitert.

    Der frühe Tod von Guillaume Depardieu, der Zeit seines Lebens ein äußerst gespanntes Verhältnis zu seinem berühmten Vater Gérard hatte, überschattet „Versailles" weit mehr, als es Pierre Schoeller recht sein kann. Noch bevor diese melancholische Außenseiter-Ballade in die französischen Kinos kam, verstarb der damals 37-jährige Schauspieler an den Spätfolgen einer bakteriellen Infektion, die er sich nach einem Motorradunfall zugezogen und die ihn zuvor schon ein Bein gekostet hatte. Depardieus tragischer Tod hat Schoellers Erstling fast schon eine mythische Dimension verliehen. Er scheint die Geschichte Damiens in die Wirklichkeit zu verlängern. Zumindest kann sich genau dieser Eindruck angesichts der Nähe zwischen dem Schauspieler und seiner Rolle einstellen.

    Guillaume Depardieu, dessen hageres, vor der Zeit alt gewordenes Gesicht von zahllosen (verlorenen) Kämpfen, aber auch von einem unbändigen Lebenswillen zu zeugen scheint, war die ideale Besetzung für den enigmatischen Damien. Die Aura des Rätselhaften und Widersprüchlichen, die diesen Mann in den Wäldern umgibt, wird durch ihn, den großen Rebellen unter den französischen Schauspielern der vergangenen 25 Jahre noch einmal verstärkt. Damien ist besser über die Spielregeln und die Möglichkeiten des französischen Sozialstaats informiert als die meisten, die sich nicht für ein Leben außerhalb seiner Grenzen entschieden haben. Seine Entscheidung, nicht den Erwartungen der anderen und vor allem denen seines Vaters (Patrick Descamps) zu entsprechen, war allerdings weniger ein Akt des romantischen Aufbegehrens als eine schiere Notwendigkeit.

    Damien kann in der Enge der bürgerlichen Welt auf Dauer einfach nicht glücklich werden. Damit ist er zugleich die reizvollste Figur in Schoellers letztlich doch etwas simplen Sozialmärchen. Damien und Depardieu tragen etwas Verstörendes, sich allen simplen Erklärungen Entziehendes in diese ansonsten eher biedere Geschichte. Sie bilden ein Gegengewicht zu dem Sozialkitsch, in den „Versailles" abzugleiten droht, wenn die Obdachlosen um ein Lagerfeuer herumsitzen, trinken und sich poetische Gedanken über das Leben machen. In einigen beinahe dokumentarisch anmutenden Momenten, die von dem Elend erzählen, das sich hinter dem Glanz des repräsentativen Frankreich verbirgt, die Armut und Obdachlosigkeit ohne jede falsche Sentimentalität zeigen, entwickelt Schoellers Debüt eine Kraft, die es durchaus mit der seiner Stars aufnehmen kann. Doch letzten Endes scheint er der Macht der Realität und dem Zauber eines rein abbildenden Gestus nicht vertraut zu haben. Also flüchtet sich Schoeller immer wieder in märchenhafte Gesten und Wendungen, die zwar durchaus ihren eigenen Reiz haben, aber dann doch etwas abgedroschen wirken.

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