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    Schnauze voll
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Schnauze voll
    Von Nicole Kühn

    Viele Köche verderben oft den Brei, da könnte man bei vier Drehbuchautoren Schlimmes befürchten. Peeter Simms Road Movie „Schnauze voll“ jedoch gelingt es, völlig verschiedene Welten und deren Bewohner auf einen gemeinsamen Weg zu bringen. Mit lakonischem Humor begegnen vier Menschen skurrilen Situationen, die ihnen vermeintlich den letzten Schubs geben über den Abgrund hinaus, an dem sie allesamt zu stehen scheinen. Auf holprigen Wegen kommt jedoch aus unerwarteter Richtung die Rettung – die nicht jeder so freiwillig anzunehmen bereit ist, wie man zunächst meinen sollte. Hintergründige Unterhaltung im besten Sinn!

    Ein vierblättriges Glückskleeblatt sind sie nicht gerade, die vier Helden, die die Schnauze voll haben: Der abgehalfterte ehemalige Tänzer Kaminski (Hajo von Stetten) plant seine letzte Tour mit dem Lkw nach Estland, um nach der Einlösung eines Versprechens seinem Leben ein Ende zu machen. Dabei kommt ihm allerdings Stella (Maarja Jakobson) in die Quere, die gerade ihre Träume von einem besseren Leben im Westen als Orchestercellistin begraben musste, weil sie unverschuldet zu spät zu einem Auftritt erschien. Wie es der Zufall so will, war dieser Auftritt just in der Bank, die der Kleinkriminelle Radke (Udo Schenk) um einen Sack voller Geldscheine erleichtert hat. Radke war einst Kaminskis Freund, der nun dessen Gattin (Rezija Kalnina) mit seinem großspurigen Lebensstil bezirzt und als Gegenleistung Kaminski den benötigten Lkw leiht. Im Schlepptau nach Tallinn hat Kaminski aber bald nicht nur die geradlinige Stella, sondern auch einen Leichenwagen, der als unverdächtiger Fluchtwagen für Radkes Bankraub dient und der nun dem Geldsack nachjagt, der durch widrige Umstände in Kaminskis Lastwagen gelandet ist…

    So unwahrscheinlich die Ereignisse dieser Irrfahrt in das nahe und doch so andere Estland sind, nie wirken sie konstruiert. Vielmehr scheinen die Figuren eine Schicksalsgemeinschaft zu sein, in der alle Beteiligten in einer Sackgasse stecken und sich doch gegenseitig immer wieder einen Schritt weiterführen. Absurde Situationen entstehen so, die vor Augen führen, dass Zufälle Chancen bieten, es jedoch an einem selbst liegt, sie zu ergreifen. Mit jedem Kilometer gehen den Charakteren die Augen dafür mehr auf.

    Regisseur Simm versteht es, innere und äußere Abläufe in ein dynamisches Wechselspiel zu packen, das keine introvertierte Langeweile aufkommen lässt und dabei doch genügend Ruhe findet, sich den Stimmungslagen seiner Charaktere glaubhaft zu widmen. Zwischen den Personen entstehen Dialoge, die trotz ihres Tiefgangs nicht gestelzt wirken und ohne Pathos spürbar werden lassen, welche Dramen der ganz normale Alltag in sich birgt. Wenn der ehemalige Tänzer Kaminski torkelnd der um ihr Ausdrucksmittel, das Cello, gebrachten Stella nüchtern seine Verfassung erklärt, ist das Bankrott- und Liebeserklärung zugleich. Dass man sich in alle Figuren trotz ihrer Widersprüchlichkeit gut hineinversetzen kann, ist auch den wunderbaren Darstellern zu verdanken, die ohne jede Übertreibung eine große Intensität vermitteln. Dabei versinkt das Schicksalsquartett jedoch nie in Weltschmerz, sondern zelebriert trotz allem die Lust am Leben – mal mehr, mal weniger bewusst und freiwillig.

    Der herrlich stoisch agierende Thomas Schmauser ist nach Jahren hier endlich auch einmal wieder im Kino zu sehen und verleiht Kraft seiner Rolle der Geschichte eine geradezu philosophische Dimension. Vielversprechend ist die in Estland ausgebildete Maarja Jakobson, die in ihrer noch recht jungen Karriere bereits auf einige Preise stolz sein darf und 2006 einer der „Shooting Stars“ der European Film Promotion war. Die Chemie zwischen ihr und dem hauptsächlich aus dem TV bekannten Heio von Stetten entspricht sehr genau den von Unsicherheit und Misstrauen geprägten Versuchen, sich miteinander zu verständigen.

    Das Einzige, was der Film für großes Kino kaum zu bieten hat, sind entsprechend großartige Bilder. Meist bleibt die Kamera recht nah an ihren Figuren, selten erhebt sie sich über diese und gibt einen Blick auf einen größeren Horizont oder bedeutsame Details frei. In diesem höflichen Abstand zu den Figuren macht sich bemerkbar, dass Simm auch immer als Dokumentarfilmer gearbeitet hat, dem es ein Anliegen ist, seine Figuren weder zu entblößen noch hinter eindrucksvollen Panoramen verschwinden zu lassen.

    Lieber gesteht er der Musik als universell verständlicher Sprache einen Part als Kommentator der jeweiligen Befindlichkeiten zu. Ist sie zunächst Streitpunkt in den verschiedenen Transportmitteln, so wird sie am Ende zu einem Ausdruck der Lebenslust und Freundschaft, die den Menschen mehr als jede geografische zu einer emotionalen Heimat wird. Ein Film, der ohne Blauäugigkeit und Pathos dazu einlädt, sich auch durch Rhythmusstörungen nicht aus dem Takt im Tanz des Lebens bringen zu lassen.

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