Mein Konto
    Blue
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Blue
    Von Christoph Petersen

    Nach seinem Studium der Bildenden Künste begegnete Derek Jarman dem Medium Film in der ersten Hälfte der 1970er Jahre zunächst in Form zahlreicher Super8- und Home-Movies, die die Londoner Künstlerszene porträtierten. Doch schon mit seinem Langfilmdebüt wurde deutlich, dass dem jungen, schwulen Regisseur keine ganz alltägliche Karriere ins Haus stehen würde: In „Sebastine“ inszenierte Jarman gemeinsam mit seinem Co-Regisseur Paul Humfress einen homosexuellen Historien-Mythos als Sandalenfilm-Softporno – und zwar ähnlich wie Mel Gibson später bei Die Passion Christi mit lateinischen Dialogen. In den folgenden zehn Jahren avancierte Jarman mit Werken wie „Jubilee“ (1978), „The Tempest“ (1979), „In The Shadow Of The Sun“ (1980), „The Dream Machine“ (1984) und Caravaggio (1986) zum ungekrönten Kaiser der britischen Avantgarde-Szene – das Zusammenbringen von englischer Kunstgeschichte und schwuler Identität wurde dabei zu seinem Markenzeichen. Wie so viele seiner Wegbegleiter dieser Zeit erkrankte auch Jarman schließlich an Aids. Eine der Nebenwirkungen der Bekämpfung des HIV-Virus war, dass Jarman langsam sein Augenlicht verlor. Als er 1993 an seinem vorletzten Film „Blue“ arbeitete, war er quasi blind. In Anbetracht dieses Hintergrunds verwundert es kaum, dass die visuelle Ausgestaltung des Films eine recht simple ist – die Leinwand bleibt einfach 79 Minuten lang blau.

    „Meine Netzhaut ist ein ferner Planet – ein roter Mars – aus einem Kindercomic – mit gelber Infektion – die am Rand Blasen schlägt – Ich sage, das sieht aus wie eine Pizza.“

    Lange nachhallende Glockenspielklänge. Eine Ode an die Farbe Blau, die einem kleinen Jungen die Augen öffnen soll. Fast kreischen Töne im Hintergrund. Ein Mann sitzt mit Freunden im Café. Die Zeitungen berichten vom Bosnien-Krieg. Der Mann hat seine Sachen falschherum an. Eine Frau namens Tanja weist ihn darauf hin. Er zieht die Sachen aus und wieder richtigherum an. Beim Verlassen des Cafés reißt ein Radfahrer den Mann beinahe um. Der Mann bekommt Angst – Angst vor der Dunkelheit. Im St. Bartholomew Hospital untersucht ein Arzt Jarmans Netzhaut. Jarman wird vom hellen Licht geblendet, er soll nach links, nach unten, nach oben, nach rechts schauen. Alles was er sieht, sind blaue Blitze. Eine wunderschöne, helle Melodie erklingt. Blaue Flaschen klirren, himmelblaue, auf Kornblumen wippende Schmetterlinge versinken in der Wärme eines blauen Hitzedunstes. Leiser, trauriger, zarter Gesang wird zum Blau seines Herzens, zum Blau seiner Liebe. Dies sind die ersten fünf Minuten von „Blue“ – dabei spielt sich die „Handlung“ allein auf der Tonspur ab, die Leinwand bleibt erbarmungslos blau.

    „Er ist sich nicht bewusst, dass Blau in der Ecke steht. Fieberaugen stieren auf gelbsüchtige Weizenfelder, die pechschwarzen Krähen flattern kreischend im Gelben, das zitronengelbe Monster starrt von verworfenen Bildern, die in einer Ecke stehen. Selbstmordjammer kreischt erfüllt vom Bösen und umkrallt feige Yellowbelly – schlitzäugig.“

    Das Blau der Leinwand ist eine Hommage an den Avantgarde-Künstler Yves Klein, der als Wegbereiter der Pop-Art gilt. Zu seinen bekanntesten Werken zählen unter anderem eine Reihe von monochromen Farbkompositionen, die Klein mit einer Sorte Aquamarinblau herstellte, die er sich unter dem Namen „International Klein Blue“ sogar patentieren ließ. Da ein Abfilmen der Kunstwerke leider nicht möglich war, musste Jarman das spezielle Blau allerdings im Labor entwerfen lassen. Das Blau hat auf den Zuschauer eine extreme Wirkung – es ist hypnotisch, einlullend, ermüdend und aufregend zugleich. Nach einer Zeit fällt es einem bedeutend schwerer wegzugucken als hinzusehen, das Blau zieht den Blick des Publikums an wie Licht die Motten. Während des Kinobesuchs kann eine Menge mit einem passieren – die Gedanken driften immer mal wieder von der bruchstückhaften Tonspur weg, wandern im Raum herum und kehren schließlich zur Leinwand zurück. Vielleicht schaut man sich auch einmal für längere Zeit im Saal um, schaut sich an, was die anderen Kinobesucher treiben, wie sie das Blau aufnehmen. So weist eine Vorstellung von „Blue“ immer auch eine gewisse gruppendynamische Note auf, die Teil der experimentellen Form des Films ist.

    „Die Verrückte plappert über Spritzen. Immer plappert jemand über Spritzen. Sie hat einen Schlauch in ihrem Nacken.“

    Die Tonspur ist mehrgeteilt. Im Hintergrund und in den Zwischenräumen erklingen dissonante, jazzige, klassische und melodische Motive. Auch die von insgesamt vier Sprechern (im englischen Original unter anderem Tilda Swinton (Julia) und Derek Jarman höchstpersönlich) vorgebrachten Textblöcke sind weitgefächert. Es gibt sowohl düster-surreale als auch fröhliche Anmerkungen zum Thema Blau. Unterbrochen werden sie von kurzen Hörspieleinschüben, die nicht weniger schwer einzuordnen sind. Am stärksten sind die Szenen, in denen Jarman Beobachtungen aus Wartezimmern oder Anekdoten von Arztbesuchen zeigt – tiefe, ehrliche, aber oft auch provokant vorgetragene Eindrücke. Ob man nun alles versteht oder nicht, ist schlussendlich egal – denn auch wenn das Treiben bisweilen extrem düster und verstörend daherkommt, merkt man dem Film doch an, dass sein Macher bereits Frieden mit seinem baldigen Tod geschlossen hat. Und so strahlt das Werk trotz allem auch eine tiefgreifende Ruhe und Gelassenheit aus.

    „Der Hund bellt. Die Karawane zieht weiter. Marco Polo stößt auf den blauen Berg.“

    Fazit: Eigentlich ist es gar nicht möglich, „Blue“ in das Korsett einer Punktebewertung zu zwängen. Man muss die Impressionen - das einlullende Blau, die herausfordernden musikalischen Tonfetzen, die bisweilen undurchdringlichen Prosaschnipsel - einfach 79 Minuten lang auf sich wirken lassen – und dann sehen, was es einem gebracht hat. Manche werden einen tiefen, berührenden Einblick in die Seele eines Künstlers, der im Reinen mit der Welt ist, erlangen, andere die experimentelle Form für prätentiös und hohl halten. Und wieder andere werden sich dem unnachgiebigen Blau der Leinwand durch ein kurzes Schläfchen gleich ganz entziehen. Nur eines ist sicher – ein Kinoerlebnis der besonderen Art ist Jarmans Avantgarde-Stück allemal.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top