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    Die Eroberung der inneren Freiheit
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Eroberung der inneren Freiheit
    Von Sascha Westphal

    In Gefängnisfilmen ist von Resozialisierung letztlich nie die Rede. Die Welt hinter Gittern ist genrebedingt eigentlich immer die Hölle auf Erden. Filme wie Jacques Audiards "Ein Prophet" bilden ein System ab, das die Menschen nicht nur bestraft, sondern noch weiter deformiert, das einzig alleine von Gewalt und Schrecken beherrscht wird. Hier wird aus einem kleinen Dieb geradezu zwangsläufig ein eiskalter Mörder und Bandenchef. Natürlich steckt in Audiards pessimistischen Bildungsroman mehr als nur ein Körnchen Wahrheit; und auch all die anderen düsteren Gefängnisszenarios des amerikanischen wie des europäischen Kinos sind längst keine reinen Schauermärchen. Aber sie sind in der Regel eben doch sehr einseitige Porträts eines weitaus komplexeren und sicherlich auch extrem widersprüchlichen Systems, in dem durchaus auch Raum für einen ganz anderen Wandel ist als den, den Audiard nachzeichnet. Eine ganz andere Variante des Gefängnislebens offenbart sich auf jeden Fall in Silvia Kaisers und Aleksandra Kumoreks nachdenklich stimmender Dokumentation „Die Eroberung der inneren Freiheit".

    In der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel gibt es seit dem Jahr 2000 ein in dieser Art auf der Welt einzigartiges Projekt. Zwei Philosophen, die beide der „Sokratischen Schule" angehören, bieten für die dort Inhaftierten die Möglichkeit zu „Sokratischen Dialogen". Den Ideen des berühmten griechischen Philosophen folgend, der einst selbst in einem attischen Gefängnis einsaß und dort mit dem Schierlingsbecher hingerichtet wurde, laden sie Schwerverbrecher und Langzeitinsassen zu Gesprächen ein, in denen sie sich letztlich selbst befragen und sich so Klarheit über ihr Leben verschaffen. Diese Dialoge, in deren Verlauf sich die Inhaftierten anders als bei den sonst üblichen Gesprächen mit Sozialarbeitern und Psychologen nicht selbst zensieren müssen, kreisen meist um Themen wie den Gegensatz von innerer und äußerer Freiheit, den Wert eines Lebens oder den Reiz und den Glamour des Illegalen. Dabei können alle ganz offen sprechen – und eben diese Freiheit zur Wahrheit, zur ungeschminkten (Selbst-)Erkenntnis, eröffnet den freiwilligen Teilnehmern, zu denen Mörder genauso wie Drogendealer, Betrüger und Autoschieber zählen, ungeahnte Veränderungsmöglichkeiten.

    Silvia Kaiser und Aleksandra Kumorek haben die sokratischen Gespräche in der JVA Berlin-Tegel ein Jahr lang begleitet. Sie waren mit ihrem Team dabei, wenn sich die Teilnehmer mit den Philosophen getroffen haben, und sie haben sie auch noch in ihren Zellen und an ihren Arbeitsplätzen beobachtet. Die Dialoge und die Selbstaussagen der Inhaftierten stehen dabei ganz im Zentrum ihrer Dokumentation. Sie werden lediglich durch immer wieder eingeschnittene Blicke aus vergitterten Fenstern und durch vorbildlich komponierte Ansichten der Justizvollzugsanstalt interpunktiert. Der Lauf der Jahreszeiten spiegelt sich in diesen Gefängnisansichten und verweist dabei zugleich auf das Vergehen von Zeit wie auf ihren Stillstand. Dieser dem Leben hinter Gittern inhärente Widerspruch ist damit in „Die Eroberung der inneren Freiheit" immer präsent und verleiht den Gesprächssequenzen noch einmal eine zusätzliche Intensität.

    Wieder und wieder gehen die Blicke von Gaston, der einst Geld für einen Mord genommen hat, und von Rainer, dessen Karriere aus Diebstahl, Raub und Misshandlungen schließlich in einem Mord gipfelte, nach draußen, in die Welt, aus der sie sich selbst ausgeschlossen haben. Beide hoffen sie, einmal zurückkehren zu können. Aber jenseits der Sehnsucht spüren sie auch noch so etwas wie Angst. Dank ihrer Sensibilität und Zurückhaltung – sie drängen sich nie auf, beobachten ganz offen und frei von allen Wertungen – ist es Silvia Kaiser und Aleksandra Kumorek gelungen, diesen beiden Männern (und anderen Teilnehmern an den sokratischen Gesprächen) unglaublich nahe zu kommen. Sie öffnen sich den Filmemacherinnen und der Kamera in einer Art und Weise, die selbst im Dokumentarkino ungewöhnlich ist. Weder Gaston noch Rainer setzen sich in Szene, sie sind vor der Kamera ganz sie selbst – und dazu gehört ein ungeheuerer Mut, schließlich sind beide von Einschätzungen und Gutachten abhängig, mit denen Psychologen, Sozialarbeiter und Juristen über ihre Zukunft entscheiden. Natürlich erreichen die Gespräche, die Silvia Kaiser und Aleksandra Kumorek filmen konnten, nicht den philosophischen Reflektionsgrad, den die Werke von Sokrates oder André Gides Adaption der „Sokratischen Dialoge" haben. Aber sie zeugen von der Macht des Gesprächs und der Kraft, die einem Menschen aus einer realistischen Betrachtung seiner selbst erwachsen kann.

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