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    The Invisible Frame
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    The Invisible Frame
    Von Andreas Staben

    Vor 21 Jahren schickte die Regisseurin und Autorin Cynthia Beatt die damals noch relativ unbekannte Schauspielerin Tilda Swinton (Michael Clayton, Der seltsame Fall des Benjamin Button) auf eine ungewöhnliche Radtour: Immer entlang der Berliner Mauer führte die Reise, die Gegenstand eines knapp halbstündigen Filmessays mit dem Titel „Cycling The Frame“ wurde. Im Juni 2009 tat sich das Duo erneut zusammen, um dem Verlauf der inzwischen gefallenen Grenze noch einmal filmisch nachzuspüren. Erneut radelte die inzwischen berühmte Darstellerin weite Teile der mehr als 160 Kilometer ab, auf denen DDR-Grenzanlagen einst West-Berlin umschlossen. Der passend zum Mauerfall-Jubiläum auch in einigen Kinos zu sehende Film wäre als Dokumentation unzureichend beschrieben. Das Gespann Beatt und Swinton führt den essayistischen Ansatz des Vorgängers fort und bietet eine faszinierende Mischung aus Impressionen und Reflektionen.

    Eine Stunde lang begleiten wir Tilda Swinton auf einem Weg, auf dem Nicht-Ortskundige schnell die Orientierung verlieren. Bald verlassen wir das innere Stadtgebiet, es geht hinein in Naturschutzgebiete, an Flüsse und Seen, durch die noch vor zwei Jahrzehnten eine Staatsgrenze verlief. Gelegentlich hält Swinton an, aber sie bleibt meist für sich. Ab und zu kommt sie an Resten der Mauer vorbei, immer wieder an Zäunen und anderen neuen Absperrungen und Begrenzungen. Beatt folgt keiner strengen oder klar erkennbaren Chronologie, sie arrangiert das an nur 16 Drehtagen entstandene Material eher nach musikalisch-assoziativen Kriterien. Im fließenden Rhythmus der meist sonnendurchfluteten Fahrtaufnahmen von Kamerafrau Ute Freund (Rauchzeichen, Pink) entsteht nebenbei ein etwas anderes Berlin-Porträt abseits der bekannten Orte, das durch die musikalischen Tonlandschaften von Simon Fisher Turner zuweilen eine fast schon irreale Qualität bekommt.

    In „Cycling The Frame“ ging es um den Blick nach drüben, um die sinnliche Erfahrung einer unnatürlichen Grenze und um die Symbole und Zeichen, die diese markieren. Die Warnschilder und Wachtürme haben inzwischen Gedenktafeln und Aussichtsplattformen Platz gemacht, aber abgesehen von den offensichtlichen Veränderungen und konkreten historischen Spuren in der Gegenwart geht es für die Filmemacherinnen in „The Invisble Frame“ noch stärker um grundsätzliche und auch sehr persönliche Fragen. Die in Jamaika geborene und seit 1975 in Berlin lebende Britin Cynthia Beatt, die unter anderem gemeinsam mit Rudolf Thome das ethnographische Mammutprojekt „Beschreibung einer Insel“ verwirklichte und ihre Landsfrau Tilda Swinton, die in ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit Derek Jarman (Caravaggio) und Sally Potter („Orlando“, Yes) ihrerseits auch sehr eigenwillige künstlerische Wege beschritt, verzichten weitgehend auf geopolitische Erläuterungen und konventionelle Erzählelemente. Stattdessen gibt es Poetisches von Yeats, Robert Louis Stevenson und Anna Achmatova sowie Philosophisches und Profanes von Regisseurin und Darstellerin selbst. Einmal zählt Swinton auf, was sie alles noch an Alltagsarbeiten erledigen muss, ein anderes Mal macht sie „Musik“ auf den Blüten einer Pflanze am Wegesrand. Bei einem solch radikal subjektiven Zugriff bleibt es nicht aus, dass manchmal die Grenze zur Prätention überschritten wird, aber auch die kleinen Umwege bei der Suche nach dem richtigen Tonfall passen zu diesem Film der Gratwanderungen.

    Einmal weiß Swinton nicht, ob sie sich gerade im Osten oder im Westen befindet. „Spielt das noch eine Rolle?“, fragt sie sich. Sie ist nicht so naiv, das zu verneinen, schließlich bringe jeder Standort auch eine eigene Perspektive mit sich. So ist die Grenze zwar gefallen, aber zuweilen umso mächtiger spürbar. Am Ende bringen Swinton und Beatt ihre Erkundung passend auf den Punkt und schließen zugleich mehrere Kreise. Am Anfang hatte die auf das Brandenburger Tor zuradelnde Schauspielerin noch kurz vor dem symbolträchtigen Bauwerk abgedreht (wie sie es auch in „Cycling The Frame“ gezwungenermaßen getan hatte), am Ende nun durchquert sie das Tor und stimmt das hohe Lied der Offenheit an, die letzten Worte lauten: „Sesam öffne Dich.“ Es folgt die zum Ende eingeblendete Widmung an das palästinensische Volk – noch sind längst nicht alle Mauern eingerissen.

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