Mein Konto
    Die Vaterlosen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Vaterlosen
    Von Michael Smosarski

    Mit ihrem Langfilm-Debüt geht Regisseurin Marie Kreutzer gleich in die Vollen: Nicht genug damit, dass ihr Drama „Die Vaterlosen" existentielle Themen wie das Sterben und familiären Zerfall in den Fokus rückt, sie jongliert darin zugleich auch mit nicht weniger als sieben Protagonisten. Soviel cineastischer Ehrgeiz bringt nicht selten überambitionierte und damit überkonstruierte Kunstfilme, intellektuelle Soap Operas auf Leinwandformat, hervor. Dass Kreutzer diese Klippen umschifft und mit „Die Vaterlosen" einen künstlerischen Erfolg feiert, liegt zum einen am fantastischen Ensemble, das den hohen Ansprüchen des psychologischen Dramas jederzeit vollauf gerecht wird – und zum anderen am zurückhaltenden inszenatorischen Gestus der Regisseurin. Prädikat: Indie-Perle.

    Erst am Sterbebett des Alt-Hippies Hans (Johannes Krisch) sehen sich seine Kinder nach Jahren ohne jeglichen Kontakt wieder. Es ist eine Familienzusammenführung der besonderen Art: Als Resultat des Kommunen-Konzepts der freien Liebe, das Hans zeitlebens in Ehren hielt, stammen die Sprösslinge von verschiedenen Müttern; manche sind sich nie zuvor begegnet. So wird der gemeinsame Aufenthalt im baufälligen Elternhaus für sie zu einer Erkundungsreise in die Vergangenheit, die zugleich die Identität aller Beteiligten im Hier und Jetzt neu bestimmt. Dabei wachsen Spannungen innerhalb der Gruppe – und schließlich droht die Situation, komplett aus dem Ruder zu laufen...

    Die Eröffnungsszene zeigt die nächtliche Autofahrt hin zum Haus, das von Strahlern wie durch Bühnenspots beleuchtet ist. Dieser theatrale Eindruck und die damit verbundene Erwartungshaltung ist jedoch irreführend: Kreutzers filmischen Rahmen bilden nicht Kulissen und Kostüme, sondern ein messerscharfer psychologischer Naturalismus. Es sind die komplexen Verhältnisse zwischen den Protagonisten, die emotionalen Untiefen, die sich Stück für Stück auftun, die Kreutzer mit „Die Vaterlosen" ausleuchten will. „Bist du Freud oder bist du Kerner?", fragt Kyra an einer Stelle ihren Partner, ein augenzwinkernder Hinweis darauf, dass sich die Regisseurin der Gefahren ihres filmischen Ansatzes bewusst ist. Leicht hätte ihr Debüt zu psychologischen Seifenoper verkommen können. Das umsichtige Drehbuch lässt Raum für Unausgesprochenes, spart große Gesten aus und legt so eine ideale Grundlage für ein mitreißend aufspielendes Ensemble um die besonders hervorstechende Andrea Wenzl.

    In Rückblenden erschließt sich die Vergangenheit der Protagonisten in der vermeintlich heilen Welt der Hippie-Kommune, in der jeder alles kriegen soll und doch keiner wirklich zufrieden ist. Diese Rückschau zeigt Kreutzer in rotstichigen Bildern, die ebenso nostalgisch und entrückt wie Super-8-Urlaubsvideos anmuten. Das ist jedoch die einzige Extravaganz, die sich die Regisseurin leistet – ansonsten ist ihr Stil betont nüchtern und schnörkellos. Auffällig oft dienen ihr Berührungen als Metapher, Hände, die über Oberflächen streichen oder, im Gegenteil, den Kontakt vermeiden. Dabei geht Kreutzer subtil genug vor, um den klaren, konzentrierten Blick auf das Mit- und Gegeneinander ihrer Figuren nicht mit prätentiösen Symbolbildern zu verstellen.

    Die episodischen Ausflüge in die Vergangenheit des Personals verleihen dem kunstvollen Drama zudem Drive und Spannung – wie erklären sich Zuneigungen und ablehnende Haltungen der Figuren aus ihren erst geteilten und dann auseinanderdriftenden Biographien? Diese Frage wird von Kreutzer konsequent verfolgt und erst ganz zum Schluss plausibel beantwortet. Bis dahin entfalten die dunklen, verworrenen Verstrickungen einer gemeinsamen Hippie-Vergangenheit eine bemerkenswerte Sogkraft. Mit „Die Vaterlosen" feiert Marie Kreutzer einen Einstand nach Maß und legt ein Debüt vor, das niveau- und stilvoll, ebenso aber wunderbar unterhaltsam ist.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top