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    Im Himmel, Unter der Erde - Der Jüdische Friedhof Weißensee
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Im Himmel, Unter der Erde - Der Jüdische Friedhof Weißensee
    Von Christian Horn

    Bereits mit ihrem Dokumentarfilm „Gerdas Schweigen", der eine Auschwitz-Überlebende zu Wort kommen ließ, beschäftigte sich Britta Wauer mit deutsch-jüdischer Geschichte. Mit „Im Himmel, unter der Erde" betritt die Regisseurin dieses historische Feld erneut und rückt den jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee ins Blickfeld. Der größte aktiv genutzte jüdische Friedhof Europas zeichnet sich durch eine märchenhafte Atmosphäre aus: Mitten in der deutschen Hauptstadt liegt das 43 Hektar große Areal, das mehr wie ein Wald, denn ein Friedhof erscheint. Britta Wauer findet in ihrem Film einen passend-sanften Erzähl-Rhythmus, der weder übereilt, noch langatmig oder sperrig von diesem Ort deutsch-jüdischer Geschichte erzählt.

    Der Tod spielt in einem Film über einen Friedhof freilich auch eine Rolle, doch Britta Wauer konzentriert sich vornehmlich auf das Lebendige. Träumerische und elegante Bilder des Friedhofs wechseln mit Interviews, in denen unter anderem der ungeheuer charismatische Rabbiner William Wolff, ein Kunstleistungskurs, eine Restauratorin, eine Kleinfamilie, die mitten auf dem Friedhof wohnt, oder zwei Naturfreunde, die eine Untersuchung über die Population der Habichte auf dem Gelände durchführen, auftreten. Daneben sprechen Menschen, deren eigene Lebensgeschichte eng mit dem Friedhof verknüpft ist – sei es, weil sie dort während der Nazi-Diktatur einen Rückzugsort fanden, weil sie im Gebüsch zwischen den Grabstellen die erste Liebe entdeckten oder weil sie dort arbeiten.

    Wie bei Dokumentarfilmen fürs Kino üblich, verzichtet Britta Wauer auf einen erklärenden Off-Kommentar. Die Hintergrundinformationen liefern die Interviewpartner, deren Aussagen bisweilen zu Bildern des Friedhofs montiert werden und dadurch den Eindruck verstärken, dass der jüdische Friedhof Berlin-Weißensee ein lebendiger Ort ist, der nicht allein durch Trauer und Tod charakterisiert ist. Programmtisch ist etwa eine Einstellung, die das Kleinkind der ansässigen Familie beim Flanieren über das Gelände zeigt. Doch nicht nur die Protagonisten machen „Im Himmel, unter der Erde" zu einem lebendigen Film: Die traditionell-jüdische Musik von Karim Sebastian Elias verleiht den Bildern und Erzählungen eine heitere Grundstimmung, die einen passenden Rahmen für die oft humorvollen Interviews liefert.

    Ihren Erzählfaden orientiert Britta Wauer grob an der Geschichte des Friedhofs, der im Jahr 1880 – damals noch außerhalb der Stadt – eröffnet wurde. Da jüdische Gräber für die Ewigkeit angelegt sind und nicht, wie auf christlichen Friedhöfen üblich, nach einer gewissen Pachtfrist anderweitig vergeben werden, haben sich bis heute 115.000 Gräber angesammelt. Im Kaiserreich und der Weimarer Republik entwickelte sich der Friedhof zur größten jüdischen Ruhestätte Berlins, bis die Machtübernahme der Nationalsozialisten die Zahl der dort stattfindenden Beisetzungen dramatisch verringerte. Von besonderem Interesse ist der Umstand, dass der Friedhof während der Nazidiktatur nicht geschändet oder eingeebnet wurde, sondern durchgängig unter jüdischer Selbstverwaltung blieb. Einer der Interviewpartner erklärt dies mit einem Aberglauben, der in den Reihen der Nazis umging: Ein Golem solle dort walten.

    Ein anderer Interviewpartner geht davon aus, dass der Zweite Weltkrieg schlicht keine Zeit zur Schändung des Gebiets ließ. Wie auch immer es sich nun zugetragen hat: Der jüdische Friedhof in Weißensee, der in den nächsten Jahren zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt werden soll, überstand die Zeit des Nationalsozialismus. In der DDR, Weißensee liegt im Osten Berlins, konnte ein anderes Unglück abgewendet werden: Um den neu entstandenen Bezirk Hohenschönhausen mit der Innenstadt zu verbinden, sollte eine sechsspurige Schnellstraße mitten durch das Gelände führen. Auf beiden Seiten des Areals standen bereits die Baufahrzeuge, als ein gemeinsamer Appell der west- und ostdeutschen Juden den Bau verhinderte. Heute prägen vor allem die russisch-stämmigen Juden, die einen Großteil der jüdischen Gemeinde in Deutschland stellen, das Treiben auf dem Friedhof.

    „Im Himmel, unter der Erde" ist ein unterhaltsamer und informativer Dokumentarfilm, der in gewisser Weise eine Liebeserklärung an den Friedhof darstellt und vielfältige Einblicke in jüdisches Brauchtum gewährt. Die charismatischen Interviewpartner, die malerischen Bilder von Kameramann Kaspar Köpke, dem die ein oder andere selbstverliebte Kranfahrt verziehen sei, und der flüssige Erzählstil zeichnen ein pulsierendes Bild der jüdischen Ruhestätte in Weißensee. Die vielleicht größte Leistung des Dokumentarfilms ist, dass er das ehrliche Interesse für diesen abseits der üblichen Touristenrouten liegenden Ort nahezu verlustfrei auf sein Publikum überträgt.

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