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    Vergiss dein Ende
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Vergiss dein Ende
    Von Tobias Mayer

    Ein Demenzkranker verlernt Fähigkeiten, die für einen gesunden Menschen selbstverständlich sind: Erinnern, sprechen, denken, bewegen. Nach und nach reduziert sich die geistige und dadurch auch die körperliche Leistungsfähigkeit, bis im schlimmsten Fall kaum etwas von dem zurück bleibt, was eine Person einst ausgemacht hat. Nicht nur, dass Freunde und Familienmitglieder im Nebel der Krankheit verschwinden - auch die eigene Identität löst sich auf, als wäre eine Computerfestplatte formatiert und nicht neu bespielt worden. Nahestehende Personen leiden beim unaufhaltsam voranschreitenden Abdriften ihrer Lieben mit – besonders, wenn sie die schwierige Pflege über die eigenen Belastungsgrenzen hinaus führt. Das beklemmende Drama „Vergiss Deine Ende" handelt vom Überschreiten solcher Grenzen, offenbart all die hässlichen Auswirkungen der Demenz und leistet damit seinen kleinen Beitrag, ein wachsendes Problem unserer Gesellschaft sichtbar zu machen.

    Hannelore (Renate Krößner) ist erschöpft. Seit vier Jahren pflegt sie ihren demenzkranken Mann Klaus (Hermann Beyer), jetzt sind die Kraftreserven aufgebraucht. Sie fühlt sich ausgebrannt und verzweifelt. Als Hannelore und ihr Nachbar Günther (Dieter Mann) zufällig denselben Zug nehmen, folgt sie ihm kurz entschlossen in sein Ferienhaus auf Rügen, wo er sie – zunächst widerwillig – aufnimmt. Der verschlossene Mann betrauert ebenfalls einen Verlust, weil sein Lebensgefährte Bernhard (Martin Seifert) gerade erst an Krebs gestorben ist. Günther will sich umbringen, entwickelt aber rasch eine auf Gegenseitigkeit beruhende Zuneigung zu seinem unerwarteten Gast. Daheim muss unterdessen Hannelores Sohn Heiko (Eugen Krössner) den hilflosen Vater versorgen. Die hastige Abreise seiner Mutter bringt Heiko unvorbereitet in eine Situation, die auch ihn überfordert.

    Nach Auskunft der Selbsthilfeorganisation „Deutsche Alzheimer Gesellschaft" sind in Deutschland etwa 1,2 Millionen Menschen von Demenz betroffen. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl auf ca. 2,6 Millionen wachsen, sollte bis dahin keine verbesserte Therapiemethode entwickelt werden. Drehbuchautor Nico Woche weiß aus eigener Erfahrung, welche Schicksale hinter diesen Zahlen stecken. Nach dem Abitur war er in unterschiedlichen Ländern für Lebens- und Arbeitsgemeinschaften tätig, die geistig behinderte Erwachsene betreuen und arbeitete später neben dem Studium als ambulanter Altenpfleger. Seine Erfahrungen verarbeitete er im Skript zu „Vergiss Dein Ende", seinem Diplomfilm an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg. Die Expertise im Hintergrund merkt man dem fertigen Werk deutlich an. Hier wusste jemand, wovon er spricht. Pflegefall Klaus ist ein hilfloser Mensch, der Frau und Sohn kaum mehr erkennt, Hannelore auch mal anspuckt und seine Exkremente im kompletten Badezimmer verteilt. Zu einem effekthaschenden „Demenz-Porno" ist „Vergiss dein Ende" dennoch nicht verkommen. Ganz im Gegenteil: Die Krankheitssymptome werden drastisch, aber nie voyeuristisch gezeigt.

    Das Drama entfaltet sich dabei weniger wegen der unmittelbaren als vielmehr wegen der indirekten Wirkung der Demenz. So gesehen ist die flüchtende, psychisch stark belastete Hannelore auch ein Opfer, das hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben und der Liebe zu ihrem Mann, zwischen leiser Zuversicht und tiefer Verzweiflung, schließlich am Punkt der Selbstaufgabe angelangt. Renate Krößner braucht dabei zumeist nicht viele Worte, um die Gefühlslage ihrer Figur auszubreiten, für Dieter Mann und seinen Charakter gilt dasselbe. Die Trauer entfaltet sich in kleinen Gesten und Blicken, was sie fernab jeder Übertreibung so eindringlich macht.

    Die Schauspieler sind es, die „Vergiss Dein Ende" einen emotionalen Kern geben. Regisseur Andreas Kannengießer und Autor Nico Woche setzen den passenden Rahmen. Die Musikuntermalung hält sich dezent zurück und kommt lediglich punktuell zum Einsatz, so dass die Aufmerksamkeit zumeist voll auf den Figuren und dem Geschehen selbst ruht. Die Entscheidung, von einer linearen Erzählung abzuweichen und die Geschichte teils in Rückblenden zu erzählen, klingt aufs Erste wie eine unnötige Verkomplizierung, doch letztendlich hilft die verschachtelte Erzählstruktur, Hannelores und Günthers Vergangenheit auch in ihrem Exil auf Rügen präsent zu halten.

    Wer sich von „Vergiss Dein Ende" einfache Antworten auf Fragen des Umgangs mit Demenzkranken oder der Verarbeitung von Verlusterfahrungen erhofft, wird enttäuscht. Das Problem bekommt keine simple Lösung spendiert. Der Film bleibt offen, wenngleich Kannengießer und Woche trotzdem noch ein bisschen Hoffnung zulasssen, die berechtigterweise und in wesentlich größerer Form auch für die weitere Karriere der beiden jungen Filmemacher gilt.

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