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    Alpen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Alpen
    Von Ulf Lepelmeier

    Während das wirtschaftlich brachliegende Griechenland zum Dauersorgenkind der EU geworden ist, erfährt das griechische Kino eine künstlerische Renaissance. Mit starken Dramen wie Athina Rachel Tsangaris „Attenberg" und Giorgos LanthimosDogtooth" hat sich der griechische Film bei den Filmfestspielen in Cannes und Venedig auf originell-satirische Weise eindrücklich zurückgemeldet. Jetzt setzt Lanthimos seinen Triumphzug fort: Nachdem „Dogtooth" 2011 bereits in der Kategorie des besten nicht-englischsprachigen Films für den Oscar nominiert war, gewann sein Zweitling „Alps" wenige Monate später den Osella-Preis für das beste Drehbuch in Venedig. Und das zu Recht – wie „Dogtooth" ist auch „Alps" ein außergewöhnliches Psychodrama zwischen beklemmender Spannung und satirischer Komik, das mit einer spannenden Prämisse zur Reflektion über unsere Erinnerungskultur einlädt.

    Die vierköpfige Gruppierung namens „Die Alpen" hat ein seltsames Geschäftsmodell entwickelt: Gegen Bezahlung bieten die Mitglieder an, für einige Stunden pro Woche in die Rollen von Verstorbenen zu schlüpfen, um trauernden Hinterbliebenen den Abschied zu erleichtern. Dabei firmieren die vier Mitarbeiter unter den Namen bestimmter Berge des mitteleuropäischen Gebirges. Anführer Mont Blanc (Aris Servetalis) achtet penibel darauf, dass seine Regeln für das schwierige Geschäft befolgt werden und schreckt nicht davor zurück, Fehlverhalten auf drakonische Weise zu bestrafen. Monte Rosa (Aggeliki Papoulia), die hauptberuflich als Krankenschwester arbeitet, verfolgt hingegen eigene Ziele. Sie erlebt ihren Rollenspiel-Job nicht nur als Dienstleistung, sondern auch als Möglichkeit, ihre Sehnsucht nach Nähe zu stillen. Doch ihre zunehmend innigen Verhältnisse zu ihren Arbeitgebern stehen im Widerspruch zu Mont Blancs Instruktionen...

    Mit seinem schockierenden Familiendrama „Dogtooth" erzählte Lanthimos von einem kontrollsüchtigen Elternpaar, das seine drei Kinder isoliert von der Außenwelt erzieht und ihnen ein abstruses Weltbild vermittelt. Dabei begeisterte das in Cannes mit dem Prix Un Certrain Regard ausgezeichnete Kammerspiel mit beklemmender Atmosphäre und der präzisen Darstellung eines befremdlich-brutalen Mikrokosmos. Eine ähnlich ungemütliche Stimmung kommt auch bei „Alps" auf – bis hin zu vergleichbar absurd-blutigen Eruptionen. Doch während es in „Dogtooth" um den Ausbruchsversuch aus einer albtraumhaften Familienstruktur ging, versucht die mysteriöse Alpengruppe hier, in fremde Familien einzutauchen und vakante Plätze einzunehmen. Mit einem losen, nahezu beiläufigen Erzählstil bringt Lanthimos seine originellen Figurenkonstellationen zur Entfaltung, während er die Intensität der skurrilen Vorkomnisse mit langen, kargen Einstellungen weiter verdichtet.

    Hauptdarstellerin Aggeliki Papoulia („Dogtooth", „Kala krymmena mystika, Athanasia") gibt mit ihrem zurückgenommenen Spiel äußerst überzeugend eine undurchsichtige Krankenschwester, die sich zunehmend in Monte Rosa und ihrem Rollenspiel verliert. Die Übernahme fremder Identitäten und Eigenschaften lässt sie ihre eigenen Probleme vergessen und eröffnet ihr die Aussicht auf Nähe und Liebe. Was genau die introvertierte Frau mit den traurigen Augen zur gefährlichen Identifikation mit ihren Rollen bewegt und zur selbstverachtenden Auslieferung an die Wünsche ihrer Auftraggeber treibt, lässt Lanthimos dabei offen – so, wie auch die Hintergründe der Gruppengründung und die Motivationen der anderen Mitglieder nebulös bleiben. Erschreckend überzeugend spielt auch Aris Servetalis als tyrannischer Anführer auf.

    Immer wieder lockert Lanthimos seine hochkonzentrierte Inszenierung mit überraschenden Momenten absurder Komik und harter Gewalt auf, mal belustigend, dann wieder irritierend bis schockierend. So mutet es etwa äußerst befremdlich an, wie die Gruppenmitglieder emotionslos Satzfragmente und Phrasen in ihren Rollen abspulen – was dann in einer der schrägsten Sexszenen der Kinogeschichte gipfelt. Trotz Lanthimos' gelegentlich zu kalkuliert-formalistischer Regie entwickelt „Alpen" einen mächtigen Sog und inspiriert Reflektionen zu existenziellen Fragen: Können geliebte Menschen in Erinnerungen und Ritualen lebendig gehalten werden, nachdem sie diese Welt verlassen haben? Nimmt letztlich nicht jeder Mensch verschiedene Rollen ein, um sich dem Erwartungshorizont des Gegenübers entsprechend anzupassen und ein bestimmtes Bild von sich selbst zu schaffen?

    Fazit: Giorgos Lanthimos' originelles Zweitwerk „Alpen" erweist sich als rauhes Psychodrama, das auf so sperrige wie faszinierende Weise bedeutsame Sinnfragen aufwirft – und ganz nebenbei beweist, wie lebendig das zeitgenössische Kino des krisengeplagten Griechenland ist.

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