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    Jean Tinguely
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Jean Tinguely
    Von Michael Kohler

    Privat liebte der Schweizer Künstler Jean Tinguely starke Motoren, wie man sie in Sportwagen der Marke Ferrari oder Porsche findet. Als waghalsige Kraftnatur fuhr er diese dann oft zu Schrott, wobei in Thomas Thümenas ansonsten erschöpfend genauem Dokumentarfilm „Jean Tinguely" leider nicht enthüllt wird, ob er die Einzelteile anschließend in seinen Skulpturen verbaute. Berühmt wurde er nämlich mit elektrisch angetriebenen Maschinen aus Altmetall und Müll, die sich ohne erkennbaren Zweck um sich selbst drehen und außer gedämpftem bis infernalischem Lärm vor allem schmunzelndes Vergnügen beim Publikum produzieren. Mit seinen Skulpturen präparierte Jean Tinguely (1925 bis 1991) das Spielerische aus dem zu Ende gehenden Industriezeitalter heraus und wurde damit zu einem Klassiker der Nachkriegskunst.

    Es gibt wohl kaum ein Museum für Moderne Kunst, das keine Skulptur von Jean Tinguely sein eigen nennt. Tinguely muss man einfach (gern) haben, weil seine behelfsmäßig zusammengebastelten Ungetüme einerseits schaurig-schön und zum Erbarmen lebendig wirken, und zum anderen, weil sie eine unerhörte Symbolkraft besitzen. In Tinguelys kinetischen Skulpturen steckt der Abgesang auf den Fortschrittsglauben des frühen 20. Jahrhunderts, in dem der Mensch nur noch als Anhängsel einer sich selbst genügenden und irgendwann leer laufenden Produktionshölle erscheint – nicht zufällig zählte Charlie Chaplins Klassiker „Moderne Zeiten" zu Tinguelys Lieblingsfilmen. Thomas Thümena fügt diesem Bild in seinem Porträtfilm nun eine besondere Facette hinzu: Man sieht, wie zerbrechlich dieser energiegeladene, kraftschnaubende und das schöpferische Chaos suchende Mann zeit seines Lebens war und erkennt verblüfft, wie sehr er seinen Werken gleicht.

    Thümena erzählt das Leben Jean Tinguelys mit Hilfe privater Filmaufnahmen, Ausschnitten aus Wochenschauen und Fernsehsendungen sowie zahlreicher Interviews, die er mit Weggefährten des Künstlers führte. Sein bekanntester Gesprächspartner ist der Schweizer Künstler Daniel Spoerri, mit dem Tinguely in den 1950er Jahren eng befreundet war; die Jahre des Erfolgs und der Ehe mit der Künstlerin Niki de Saint Phalle werden dann vor allem von Laurent Condominas, einem Schwiegersohn de Saint Phalles erhellt; der Kurator Guido Magnaguagno sowie die Schrotthändlerin Françoise Duperche tragen weitere biografische Anekdoten bei. Inszenatorisch ist der stete Wechsel von zurückhaltend kommentierten Originalaufnahmen und sprechenden Köpfen nicht sonderlich aufregend, dafür erfüllen Leben und Karriere Tinguelys die Klischees des modernen Künstlers im Übermaß.

    Am Anfang erregt Tinguely als junger Student mit gewagten Schaufensterdekorationen einiges Aufsehen, gibt diesen Brotberuf aber bald auf, um als bettelarmer Künstler von Basel nach Paris zu ziehen. Er streitet mit Spoerri um dieselbe Frau, beginnt seine Karriere, indem er sich über die damals dominante Kunstrichtung, die abstrakte Malerei, lustig macht, und verblüfft die New Yorker Gesellschaft bei seinem ersten Amerika-Besuch mit einem sich selbst zerstörenden Kunstwerk. Tinguely, der privat ungeordnete (Liebes-)Verhältnisse bevorzugt, hält sich auch bei der Arbeit an keine Vorschriften: Für ein Projekt in der Wüste von Nevada schmuggelt Niki de Saint Phalle einen mit Dynamit gefüllten Koffer im Linienflugzeug in die USA, und sein größtes Werk, den tonnenschweren „Zyklop", errichtet er schwarz in einem Wald und macht ihn nach Fertigstellung der französischen Regierung zum Geschenk. Aber da ist er schon so berühmt, dass diese schlecht ablehnen kann.

    In Künstlerbiografien ist es mittlerweile an der Tagesordnung, das Publikum nicht mit kunsthistorischen Abschweifungen zu verschrecken. Daran hält sich auch Thomas Thümena bei „Jean Tinguely", was einerseits ganz gut klappt, weil sich dessen Skulpturen weitgehend selbst erschließen. Andererseits wirkt Tinguelys Werk dadurch wie vom Himmel gefallen (was es nicht ist), und wenn dann doch einmal Namen wie Kurt Schwitters oder Fachbegriffe wie Nouveau Réalisme zur Sprache kommen, wird das Publikum mit ihnen allein gelassen. Dafür lernt man eine Menge über den Menschen Jean Tinguely, der mit den Jahren immer mehr dem Schweizer Urkauz ähnelt, den sein Name von Anfang an verspricht.

    Fazit: Eine sehenswerte Filmbiografie über den Schweizer Künstler Jean Tinguely, der mit spielerischen Altmetall-Maschinen zum modernen Klassiker wurde. Die etwas trockene Inszenierung wird durch die saftigen biografischen Details weitgehend wettgemacht.

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