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    The Attack
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Attack
    Von Andreas Günther

    Dem Schrecken eine Gestalt geben, um ihn dadurch im besten Fall zu überwinden – für diese Aufgabe ist das Kino ideal geeignet. Nicht nur, wenn es um jene archetypischen Angstquellen geht, die in Horrorfilmen Thema sind, sondern auch bei privaten und politischen Tragödien wie in Ziad Doueiris fesselndem Drama „The Attack“. Basierend auf einem Roman des unter dem Pseudonym Yasmina Khadra schreibenden und im französischen Exil lebenden Algeriers Mohammed Moulessehoul geht es um die Hintergründe eines Selbstmordanschlags in Tel Aviv, der das scheinbar geregelte Leben eines arabischen Arztes komplett aus der Bahn wirft.

    Beim Mittagessen auf der Dachterrasse eines großen Krankenhauses in Tel Aviv werden der renommierte arabische Chirurg Dr. Amin Jaafari (Ali Suliman) und seine Kollegen von einer Explosion aufgeschreckt. Über die nächsten Stunden treffen die furchtbar verstümmelten Opfer des Selbstmordanschlags ein, darunter viele Kinder, die Jaafari und die anderen Ärzte operieren oder wieder zu beleben versuchen. Der Chirurg bleibt hochprofessionell, bis er die Nachricht erhält, dass auch seine Ehefrau Siham (Reymond Amsalem), die er bei ihrem Großvater in den Autonomiegebieten wähnte, zu den Toten zählt. Doch es kommt noch schlimmer: Sicherheitschef Raveed (Dvir Benedek) hält Siham nicht für ein Opfer, sondern für die Attentäterin, was auch ihren Mann verdächtig macht. Von seinen jüdischen Kollegen bleibt nur Kim (Evgenia Dodena) loyal, doch lange mag Jaafari nicht an eine Verstrickung seiner Frau glauben. Als er auf eigene Faust ermittelt, stößt er auf seinen Cousin Adel (Karim Saleh) und den versteckt lebenden Sheikh Marwan (Hassan Yassine), die möglichen Drahtzieher des Anschlags.

    Mit der Figur des Arztes Jaafari steht das Schicksal eines Mannes im Zentrum des Films, der zwischen allen Stühlen sitzt: Araber und doch israelischer Staatsbürger, von anderen Muslimen misstrauisch beäugt, in der israelischen Gesellschaft für seine medizinischen Leistungen anerkannt und doch schnell als ihr Feind gebrandmarkt. Dass Ali Suliman diesen Mann so glaubwürdig verkörpert, mag auch daran liegen, dass der international gefragte palästinensische Darsteller („Der Mann, der niemals lebte“, „Operation: Kingdom“) einen vergleichbaren Lebensweg zurückgelegt hat. In der gefährlichen Spurensuche des Humanisten Jaafari, der erkennen muss, dass er den Menschen vernachlässigt hat, der ihm am nächsten steht, kristallisiert sich jedoch weit mehr als der scheinbar unlösbare israelisch-palästinensische Konflikt.

    Ohne deshalb weniger aufwühlend und spannend zu sein, streifen Regisseur Ziad Doueiri („Lila Says“) und sein Co-Autor Joelle Touma („Just Like A Woman“) die Thriller-Hülle der literarischen Vorlage ab und deuten an, welchen Anteil unpolitisches privates Unglück an jeder politischen Aktion haben kann. Dabei bedienen sie sich surrealer Bilder, lassen die Toten ebenso in Erinnerungen wie in plötzlichen Erscheinungen in der Gegenwart auftreten. Wie Jaafari seine verstorbene Frau nackt und in Gedanken versunken mit einer Zigarette auf der Terrasse ihres Apartments sitzen findet, verrät viel darüber, was ihre Beziehung geprägt hat: Körperlich voneinander angezogen zu sein und doch in ganz verschiedenen Welten zu leben. Die Einsamkeit und Ungeschütztheit von Sihams Haltung macht deutlich, dass extreme Formen politischen Engagements, etwa für den palästinensischen Untergrund, vor allem auf persönliche traumatische Erfahrungen zurückzuführen sind, für die im bewaffneten Kampf eine trügerische Lösung gesucht wird.

    Wesentlich plausibler als der Roman, der dazu auf abstrakt bleibende Kindheitserlebnisse zurückgreift, kann deshalb die Kinoversion aufzeigen, welche Faktoren für die Radikalisierung verantwortlich sein können. Wenngleich die Verfilmung mit der Vorlage das Defizit teilt, die religiösen Momente des Nahostkonflikts zu vernachlässigen, so erweist sie sich doch dadurch überlegen, einen Ausstieg aus der Vergeltungsspirale von Gewalt und Gegengewalt aufzuzeigen, ohne dabei den Schmerz über den persönlichen Verlust gering zu achten. Es ist ein Weg, den außer der Literatur nur das Kino gehen kann, wenn Jaafari die letzte Begegnung mit Siham noch einmal so erleben darf, als hätte er von ihr Abschied nehmen können.

    Fazit: „The Attack“ bietet fesselndes Nahostkonflikt-Kino auf ganz hohem Niveau: emotional, überparteilich und spannend. Getragen von einem ideal besetzten Hauptdarsteller tastet sich Ziad Doueiri behutsam an seine Vision des Umgangs mit den ungeheuren Opfern der jahrzehntelangen gewaltsamen Auseinandersetzungen heran.

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