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    Camp 14: Total Control Zone
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Camp 14: Total Control Zone
    Von Tim Slagman

    Es gibt Filme, bei denen die herkömmlichen Maßstäbe der Kritik an ihre Grenzen stoßen. Marc Wieses Dokumentation „Camp 14 – Total Control Zone" ist so ein Film. Anhand der Berichte von drei Augenzeugen führt der Regisseur den Zuschauer tief in die grausame, abgeschottete Welt nordkoreanischer Arbeitslager. So erschütternd sind diese Zeugnisse seiner Protagonisten, dass sie – um eine in Bezug auf das Kino beinahe abhanden gekommene, pathetische Floskel zu bemühen – manchen handwerklichen Mangel überstrahlen oder angemessener: überschatten. Viele davon gibt es in Wieses betont nüchterner, ruhiger Dokumentation allerdings ohnehin nicht.

    Shin Dong-Hyuk ist vor knapp 30 Jahren in einem nordkoreanischen Arbeitslager auf die Welt gekommen. Er war dadurch von Geburt an politischer Häftling. Er wuchs in Camp 14 auf, wo bei kleinsten Vergehen die Todesstrafe drohte. Das brutale Regiment setzt sich bis in die kleinsten zwischenmenschlichen Beziehungen fest, es gibt keinen Familiensinn, kein Fleisch zu essen und keine Möbel in den Unterkünften der Gefangenen. Als eines Tages ein neuer Häftling eingeliefert wird und von Grillpartys erzählt und von Reisen nach China, von einer anderen Welt, die Shin Dong-Hyuk niemals gesehen hat, reift sein Entschluss zu fliehen. Es beginnt eine Odyssee durch Nordkorea, über China bis nach Seoul – und von dort zu Konferenzen, Auftritten, Talkshows und zum lärmenden Trubel einer neuen Welt. Als Ergänzung zu Shing Dong-Hyuk gelang es Regisseur Wiese auch zwei Täter vor die Kamera zu bekommen: Hyuk Kwon, Kommandant der Wärter in Camp 22, und der ehemalige Geheimpolizist Oh Yangnam erscheinen im adretten Anzug zu den Interviews. Während Hyuk Kwon, den Wiese zu Ausflügen mit seiner anscheinend glücklichen Familie begleitet, sich mit keinem Wort für seine Taten entschuldigt, äußert Oh Yangnam immerhin so etwas wie ritualisiert einstudiertes Bedauern.

    Dank der verschiedenen Blickwinkel gelingt es Wiese zu zeigen, wie sich die Gefühlskälte des Regimes sowohl in seinen Tätern als auch den Opfern einnistet. Weniger aus den Worten selbst, als aus den Gesten, dem stockenden Suchen nach einer Formulierung, dem Bitten um eine Pause oder dem nervösen Zug an der Zigarette bekommt man eine Ahnung vom Innenleben der Interviewpartner. Er habe keine Trauer empfinden können, sagt Ex-Häftling Shin Dong-Hyuk über den Tod seiner Mutter und seines Bruders, die vor seinen Augen hingerichtet wurden, nachdem er selbst sie verpfiffen hatte. Und auch sein Vater wurde nach der Flucht mindestens gefoltert, vielleicht sogar getötet – niemand kann es wissen. Shin Dong-Hyuk zeigt kein großes Mitgefühl, menschliche Zuneigung sei ihm nicht beigebracht worden, nur, dass es richtig sei, Verstöße gegen die Regeln anzuzeigen. Wenn er dann erzählt, dass er, um in die Freiheit zu gelangen über einen am Elektrozaun gegrillten Mitausbrecher geklettert ist, dann offenbart sich eine verstörende Mischung aus Überlebensdrang und Verrohung - es ist beileibe kein Heldenporträt, das Wiese zeichnet.

    Weil ein Blick in die Lager nicht möglich ist, kann der Film keine andere Perspektive als die seiner Protagonisten bieten, alle möglichen Zweifel und Widersprüche bleiben im Raum stehen. Shin Dong-Hyuks Erzählungen werden durch von der Firma Cartoonamoon („The Green Wave") animierte Sequenzen in graubraunen, bewusst statischen Bildern untermalt, aber diese Szenen können ihren rein illustrierenden Charakter nicht verbergen. Wo Ari Folman in „Waltz with Bashir" das Fragmentarische, Unzuverlässige des filmischen Reproduktionsprozesses verdeutlichte, setzt Wiese auf eine bloße atmosphärische Verdichtung. Dabei hat er allerdings kein Interesse am spekulativen Bild, sondern setzt auf eindeutige Kontraste.

    Shin Dong-Hyuk bewohnt eine Bude, in der immer noch keine Möbel stehen. Er rollt sich nachts auf einer dünnen Decke ein und neben dem Kopfende liegt - die Gründe lassen sich nur erahnen - eine Rolle Toilettenpapier. In einem dröhnenden Supermarkt in Seoul steht er hilflos vor einem Kühlregal mit Dutzenden Milchsorten. In der Partystimmung bei der amerikanischen Menschenrechtsorganisation LINK wirkt er, der Individualist wider Willen und ohne Alternative, seltsam verloren. Mit diesen Aufnahmen erweitert Wiese den Blickwinkel: „Camp 14" ist nicht nur ein Dokument über den Zustand in nordkoreanischen Lagern, sondern auf einer zweiten, viel stärkeren Ebene, ein Film über einen Heimatlosen auf der Suche nach seiner Identität. Nur um Geld, Geld, Geld gehe es in Südkorea, stellt der von den Möglichkeiten der Freiheit Überforderte ernüchtert fest. Und dann folgt ein Satz, der stärker erschüttert als all die Schilderungen von Mord und Entbehrung: Shin Dong-Hyuk sagt, er möchte zurück in seine wirkliche Heimat - ins Lager!

    Fazit: Regisseur Marc Wiese nähert sich seinem schockierenden Thema mit großer Sorgfalt und erzählt auf geschickt ineinander verwobene Weise eine Geschichte vom Leben im Lager und vom Leben danach.

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