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    Die Lebenden
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Die Lebenden
    Von Andreas Günther

    Auch in der dritten Nachkriegsgeneration hinterlassen die Schrecken des Nationalsozialismus noch klaffende Wunden. Allerdings stellt sich die Frage, was schmerzt diese jungen Leute, die erst dreißig Jahre nach dem Kriegsende geboren wurden, besonders? Und was bedeutet dies für ihr Leben, gerade wenn ihre Vorfahren Täter waren? In diesen und vielen anderen Punkten bleibt Barbara Albers autobiografisch inspiriertes Drama „Die Lebenden“ bedauerlicherweise ungenau. Warum ihre weibliche Hauptfigur die nationalsozialistische Verstrickung ihrer Familie erhellen will, erfährt man nicht wirklich. Wenn sich am Ende die Recherchen der Mitzwanzigerin sogar als überflüssig entpuppen, hat sich „Die Lebenden“ trotz starker Bilder längst im Widerspruch zwischen dokumentarischer Anverwandlung und dramatischer Überhöhung zerrieben.

    Im Zentrum von „Die Lebenden“ steht die 25 Jahre alte Berliner Germanistik-Studentin Sita (Anna Fischer), die als Talentsucherin für eine Casting-Show namens „Supertalent“ zu viel zu tun hat, um endlich ihr Studium abzuschließen. Zudem endet gerade ihre Affäre mit dem Redakteur Gunther (Wanja Mues), der seine Freundin nicht verlassen will. Die romantische Nacht mit dem faszinierenden israelischen Fotokünstler Jocquin (Itay Tiran) ist da eine willkommene Ablenkung – und erst recht der 95. Geburtstag ihres geliebten Großvaters Gerhard Weiss (Hanns Schuschnigg) in Wien. Doch dort stößt sie auf Hinweise, dass der gebürtige Siebenbürger entgegen den Beteuerungen ihres Vaters Lenzi (August Zirner) als SS-Angehöriger tief in die nationalsozialistische Vernichtungspolitik verwickelt war. Eine Reise nach Warschau, wo sie bei der Amerikanerin Silver (Daniela Sea) wohnt, erhärtet ihren Verdacht genauso wie Videointerviews ihres schriftstellernden Großonkels Michael (Winfried Glatzeder) mit dem alten Weiss. Wie kann vor diesem Hintergrund ihre Beziehung zu dem jüdischen Jocquin eine Chance haben?

    Mal sehr burschikos, mal sehr weiblich, aber immer in Bewegung, gibt die vielbeschäftigte TV- und Kinoschauspielerin Anna Fischer („Wir sind die Nacht“, „Heiter bis wolkig“) dem Film von der ersten Minute an einen verführerischen Schwung, düst auf ihrem Motorroller über Berliner Boulevards und macht Eroberungen. Kameramann Bogumil Godfrejow („Was bleibt“, „Lichter“) lässt sich von dieser Leichtigkeit davon tragen und wirft einen bald sensiblen, bald satirischen Blick nicht nur auf die kreative Klasse der Hauptstadt, sondern auch auf die Bewohner im Altenheim des Wiener Großvaters. „Die Liebenden“ sieht so nicht nur gut aus, sondern hört sich auch gut an, weil die Bilder mit exzellentem Sound zwischen altem Volkslied und experimentellem Independent-Pop untermalt werden. Nur kommt trotz aller inszenatorischen Finesse das eigentliche Thema von „Die Lebenden“ dabei nur am Rande zur Geltung.

    So wundervoll Anna Fischer einmal mehr in der Hauptrolle anzusehen ist, so allein gelassen wird sie bei der Ausgestaltung ihrer Figur vom Drehbuch. Dass Sita sich der Ergründung der großväterlichen Vergangenheit widmet, kommt zu plötzlich. Ihr Antrieb wird nicht klar, ein Bezug zum Studium bleibt ebenso vage wie der oft geäußerte Wunsch, die Wahrheit erfahren zu wollen oder ein angedeutetes rebellisches Aufbegehren gegen die Widerstände des Vaters. Dies wäre noch zu vernachlässigen, wenn nicht Sitas Elan dann plötzlich wieder dadurch ausgebremst wird, dass sich die familiäre Aufarbeitung dank der Videointerviews ihres Großonkels als bereits getan herausstellt. Das ist dramaturgisch ernüchternd und suggeriert unterschwellig, dass die Zeitgeschichte bereits ausreichend durch die Vorgeneration ausgeleuchtet ist – ein falscher Schluss.

    Barbara Albers vermeidet es die Bedeutung der über fünfzig Jahre zurückliegenden Taten für die Gegenwart nachdrücklich herauszustellen und greift stattdessen auf Bilder zurück, die vielfältige Deutungsmöglichkeiten zulassen. Soll zum Beispiel der blonde „Supertalent“-Anwärter mit dem Stacheldrahtmuster auf den Shirt-Ärmeln und dem Schnellfeuergewehr im Hintergrund auf eine gewaltbereite und eventuell rechtsextremistische deutsche Jugend verweisen? Deutet die junge Flüchtlingsfrau, für deren „Supertalent“-Auftritt sich Sita nachdrücklich einsetzt, eine Parallele zu den Verbrechen der Nazis an?

    Barbara Albert setzt zwar mehrere Höhe- und Wendepunkte, doch dies geschieht meist dramaturgisch eher holprig. Es ist vor allem erstklassigen Schauspieler wie dem seit „Die Legende von Paul und Paula“ unvergessenen Winfried Glatzeder und Bühnenstar Hanns Schuschnigg, der mit über 80 sein Kinodebüt gibt, zu verdanken, dass diese Schwächen oftmals noch umschifft werden. Das klappt allerdings nicht immer: Da muss auch mal ein simpler Dialog zwischen Jocquin und Silver reichen, um in Sita eine grenzenlose Eifersucht zu wecken. Barbara Alberts Film schlägt dann endgültig die Richtung von fragwürdigem Thesenkino ein, als Sitas Vater sich urplötzlich bereit erklärt mit seiner Tochter nach Ausschwitz zu fahren, wo er sich doch zuvor vehement jeder kritischen Frage großväterlichen Biografie verweigert hat.

    Fazit: Ungeachtet stilistischer Klasse behandelt „Die Lebenden“ sein komplexes Thema zu inkonsequent und nachlässig.

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