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    Lügen und andere Wahrheiten
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    1,5
    enttäuschend
    Lügen und andere Wahrheiten
    Von Andreas Staben

    Ursprünglich sollte Vanessa Jopps halbimprovisierter Ensemblefilm nur „Lügen“ heißen und dieser schlichte Titel hätte dem bitteren Reigen von Täuschungen, Heimlichkeiten und Vorwänden womöglich besser gestanden als das komödiantische Leichtigkeit vortäuschende „Lügen und andere Wahrheiten“ - auch wenn ein Etikettenschwindel natürlich wunderbar zum Thema des Films passt. Denn so oder so ist der Titel Programm und es darf als ziemlich sicher gelten, dass Soziologen, Psychologen und andere Forscher, die sich mit dem Lügen im weiteren Sinne befassen, in diesem Film fast jede erdenkliche Variante des Phänomens wiederfinden werden. Nur ob sie mit den Beispielen auch etwas anfangen können, ist fraglich, dafür wirken sie in der Mehrzahl allzu konstruiert und bleiben häufig abstrakt. Zur emotionalen Wahrheit der Unwahrheit stoßen Jopp („Vergiss Amerika“, „Der fast perfekte Mann“) und ihre improvisierenden Darsteller nur selten vor. Am Ende sind die Lügen hinter den Kulissen dieses Films interessanter als jene auf der Leinwand.

    Die Zahnärztin Coco (Meret Becker) steht kurz vor der Hochzeit mit dem Immobilienmakler Carlos (Thomas Heinze). Minutiös plant sie die Feier und auch vom Verhalten ihres zukünftigen Mannes hat sie ganz genaue Vorstellungen. Alkoholexzesse und Bordellbesuche gehören nicht dazu, das weiß Carlos und verschweigt Coco daher die 3800-Euro-Rechnung des letzten feuchtfröhlichen Abends genauso wie den anschließenden Führerscheinverlust. Als er allerdings die Trauringe nicht bezahlen kann, weil seine Kreditkarten gesperrt sind, droht sein Lügengebäude zusammenzustürzen. Auch Vera (Alina Levshin) hat Geldprobleme, nachdem Coco sie als Sprechstundenhilfe entlassen hat. In ihrer Not erpresst die junge Russin den Yogalehrer Andi (Florian David Fitz), dessen Ruf sie nach einer zufälligen Beobachtung ruinieren könnte. Der wiederum verheimlicht auch seine Affäre mit der Malerin Patti (Jeanette Hain), die darüber gar nicht glücklich ist und im Übrigen auch der bevorstehenden Heirat ihrer besten Freundin Coco mehr als skeptisch gegenübersteht. Als deren Nachbarin Cindy (Lilith Stangenberg) einen Selbstmordversuch begeht, kommen noch weitere Lügen, Halbwahrheiten und Geheimnisse zum Vorschein…

    Regisseurin Vanessa Jopp und ihr Co-Drehbuchautor Stefan Schneider („Planet Deutschland – 300 Millionen Jahre“) haben sich bei „Lügen und andere Wahrheiten“ für eine ungewöhnliche Arbeitsweise entschieden, die sie in ähnlicher Form bereits 2006 bei ihrem Sozialdrama „Komm näher“ anwandten: Sie verfassten ein Skript ohne Dialoge, gaben aber detaillierte Beschreibungen und legten genaue Aufgabenstellungen für die Figuren fest. Die Richtung einer Szene war damit ziemlich genau vorgegeben, aber bei der Ausgestaltung im Einzelnen hatten die Schauspieler große Freiheiten. Damit die angestrebte Spontanität erhalten blieb, musste Jopp ihre Darsteller ironischerweise immer wieder anlügen, denn die sollten von bestimmten Situationen und Entwicklungen tatsächlich überrascht werden. Das hört sich alles recht spannend an, aber auf der Leinwand bleibt von der Methode hauptsächlich der Eindruck einer ausgeprägten Uneinheitlichkeit zurück. So liegt einigen Akteuren das Improvisieren offensichtlich deutlich mehr als anderen und auch der Erzählton schwankt zwischen gegensätzlichen Extremen: Da gibt es von der Distanz des absurden Theaters über die Unmittelbarkeit eines rauen Dramas bis zur Verspieltheit einer Boulevard-Komödie so ziemlich alles, aber einen Mehrwert hat das nicht.

    Die Inszenierung folgt ausschließlich den Zwängen des Experiments (mobile Kamera, großflächige Ausleuchtung) und so müssen Handlung und Figuren für den erzählerischen Zusammenhalt sorgen. Doch auch wenn einige Akteure (allen voran Thomas Heinze als sich immer tiefer ins Schlamassel manövrierender Schwerenöter und Jeanette Hain als Meisterin der Selbsttäuschung) die Gelegenheit zu sehr leb- und glaubhaften Porträts nutzen, können die meisten Darsteller sich nicht aus dem Korsett der Vorgaben befreien: So bleibt etwa Florian David Fitz‘ („Vincent will meer“) Yogalehrer Andi, der angeblich seit sieben Jahren keinen Orgasmus hatte und mit einem Gewaltproblem kämpft, eine reine Kopfgeburt und es ist kein Wunder, dass der Schauspieler sich bei einem Anforderungsprofil, das die sanft-spöttische Darstellung fernöstlich angehauchter Esoterik, ein hartes Psychodrama und eine Außenseiter-Romanze umfasst, auf ein nahezu ausdrucksloses mimisches Minimalprogramm als größten gemeinsamen Nenner beschränkt. So lässt sich dieser Film, in dem die vermeintlich einzige sichere Wahrheit am Ende per Lügendetektor auch noch als unwahr entlarvt wird, und in dem es zuweilen zu entlarvenden Fehlgriffen kommt („Das ist ein Russe, Mensch! Der könnte eine Waffe haben.“) schließlich nur mit einem hier mehrere Male fallenden Satz begegnen: Ich glaube dir nicht.

    Fazit: In „Lüge und andere Wahrheiten“ geht es um die Allgegenwart von Lug und Trug, aber zur Wahrheit stoßen Vanessa Jopp und ihre Mitstreiter in diesem zu großen Teilen improvisierten und dennoch überkonstruierten Ensemblestück nicht vor.

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