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    Tore tanzt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Tore tanzt
    Von Lars-Christian Daniels

    Nur ein einziger deutscher Film schaffte es 2013 in den Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes: Katrin Gebbes Drama „Tore tanzt“ lief bei der 66. Ausgabe des französischen Filmfestivals in der renommierten Nebenreihe „Un Certain Regard“ und wurde an der Croisette prompt von einem US-Verleih für eine Auswertung in den Vereinigten Staaten eingekauft. Im September 2013 feierte der Film seine Deutschlandpremiere auf dem Filmfest Hamburg und wurde in der Hansestadt nicht nur von der Presse und vom Publikum gefeiert, sondern von der Jury zudem mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet. Zu Recht: Wenngleich „Tore tanzt“ im Rennen um den deutschen Oscar-Beitrag 2014 gegenüber Georg Maas‘ Nazi-Stasi-Drama „Zwei Leben“ das Nachsehen hatte, ist Gebbes Spielfilmdebüt ein bemerkenswertester Film. Auf den Spuren von Lars von Trier inszeniert die junge Filmemacherin mit sicherer Hand ein düsteres Missbrauchsdrama, das eine verstörende Eigendynamik entwickelt und den Zuschauer auch nach dem Abspann noch lange beschäftigt – radikales deutsches Kino, das man sich nicht entgehen lassen sollte!

    Der junge Tore (Julius Feldmeier) lebt gemeinsam mit einigen religiösen Punks – den „Jesus Freaks“, wie sie sich selbst nennen – in einer Art Glaubens-WG. Auf einem Rastplatz trifft er den Familienvater Benno (Sascha Alexander Gersak), dessen Auto nicht anspringen will. Doch Tore, der die Begegnung als Zeichen Gottes wertet, kann helfen: Er schickt ein Stoßgebet gen Himmel und siehe da: Der Wagen fährt wieder. Benno, der mit Glauben nicht viel am Hut hat, ist von dieser spontanen Rettungsaktion so beeindruckt, dass er Tore zum Dank zu sich nach Hause einlädt – in ein Gartenhaus einer Schrebergartensiedlung, in dem er gemeinsam mit seiner Frau Astrid (Annika Kuhl), seiner 15-jährigen Tochter Swanny (Swantje Kohlhof) und ihrem jüngeren Bruder Dennis (Til-Niklas Theinert) wohnt. Tore und Benno verstehen sich zunächst gut, so dass sich der Punk in einem Zelt im Garten einquartieren darf, im Gegenzug hilft Tore im Haushalt und bei der Gartenarbeit. Doch Benno verändert sich: An Swannys Geburtstag schlägt er Tore plötzlich ohne Vorwarnung ins Gesicht. Der bleibt trotz des gewaltigen Schreckens und einer blutigen Nase auch weiterhin Gast bei der Familie, denn er sieht die immer schwereren Misshandlungen durch das aufbrausende Familienoberhaupt als göttliche Herausforderung...

    „Tore tanzt“ beruht auf einer wahren Begebenheit, auf die Katrin Gebbe vor einigen Jahren durch eine Pressemitteilung stieß (wie sie uns im FILMSTARTS-Interview verriet). Die Filmemacherin entwickelte den realen Schreckensfall aber weiter: Sie gliedert ihre Geschichte – wie bereits Ulrich Seidl seine „Paradies“-Trilogie – in die drei Kapitel „Glaube“, „Liebe“ und „Hoffnung“ und unterzieht die spirituellen Grundpfeiler der christlichen Zivilisation einer knapp zweistündigen dramatischen Befragung. Über die Vorgeschichte der Figuren erfährt der Zuschauer dabei nichts: Das Drehbuch lässt den sozialen Abstieg von Bennos Familie ebenso unbeleuchtet wie Tores Beweggründe, sein Leben komplett auf Jesus auszurichten. Dies ist nicht weiter störend, im Gegenteil: Gebbe macht den schillernd-sympathischen, oft etwas naiv wirkenden Religionsfreak zur Hauptfigur und erweitert die Handlung  gekonnt um eine charmante Liebesgeschichte, die sich perfekt ins Geschehen einfügt und bei der Tore die keineswegs unerfahrene Swanny beim nächtlichen Swimmingpool-Ausflug vor den Kopf stößt: Sex gibt es bei den „Jesus Freaks“ schließlich erst nach der Heirat. Tores erste Liebe und Leidensgenossin, die ebenfalls von ihrem gewalttätigen Vater misshandelt und sexuell missbraucht wird, wird dennoch zu seiner wichtigsten Bezugsperson.

    Zugleich ist Swanny, die das aufziehende Gewitter aus Gewalt und Demütigung voraussieht und Tore vehement zur Flucht aus ihrem Elternhaus bewegen will, die einzige Hoffnung auf Rettung: Der Religionspunk, als junger Mann ein eher untypisches Opfer von häuslicher Gewalt, lässt die Gelegenheiten zur Flucht nämlich immer wieder verstreichen. Als sein Kumpel Eule (Daniel Michel), der die blauen Flecken an Tores Unterarmen ebenso bemerkt wie der Stationsarzt bei einem späteren Klinikaufenthalt, ihm anbietet, ihn in eine neu gegründete Jesus-Kommune nach Berlin zu begleiten, lehnt Tore ab, weil er fest daran glaubt, dass ihn der Erlöser auf seinem Gang durch das finstere Tal begleiten wird. Für den Zuschauer – ganz gleich, wie bibeltreu er auch sein mag – ist dieser freiwillige Gang ins Verderben kaum zu begreifen. Denn anders als der Sohn Gottes, der für die Sünden der Menschen am Kreuz sein Leben ließ, opfert sich Tore keinem höheren Ziel, sondern wird zum namenlosen Opfer seines eigenen, unerschütterlichen Optimismus: Die schrecklichen Leiden, die er klaglos über sich ergehen lässt, machen in höchstem Maße betroffen, weil sich die Frage nach dem Warum jeden Tag aufs Neue stellt. Trotz der fehlenden Antworten sind die Parallelen zur Passion Christi, die Mel Gibson in seinem oscarnominierten Film so schonungslos und blutig illustriert, förmlich greifbar und werden zudem wörtlich in den dramatischen Schlussakkord eingeflochten („Na, wo ist dein Gott jetzt?“).

    Gebbe ist jedoch weit davon entfernt, ihre Hauptfigur zum Helden zu stilisieren: Tore gerät nicht ganz unverschuldet in die kompromisslose Gewaltspirale und wird zum willkommenen Katalysator für die angestauten Aggressionen der verarmten Familie. Selbst der kleine Dennis, dessen kindliche Naivität der eigene Vater schonungslos ausnutzt, verrichtet seine Notdurft an Tores Zeltwand, als dieser gerade nicht hinsieht. Astrid, die von ihrem eifersüchtigen Ehemann zu Hause eingesperrt wird, zwingt Tore hingegen mit verstörender Unbeirrbarkeit zum Verzehr eines sichtbar verdorbenen Hähnchens – eine zutiefst erschütternde, unglaublich grausame Sequenz, die den Zuschauer körperlich mitleiden lässt und dem Jesus-Freak eine schwere Lebensmittelvergiftung beschert. Nach dem harmonischen erste Kapitel „Glaube“, das den tragischen Verlauf der Geschichte allenfalls erahnen lässt, entspinnt Gebbe im zweiten Kapitel „Liebe“ ein düsteres Missbrauchsszenario, das eine brutale Eigendynamik entwickelt und mit einer kontinuierlichen Steigerung der Gewalt bis an die Schmerzgrenze geht. Der Zuschauer wird durch den unausweichlichen Triumph des Bösen über das Unschuldige förmlich dazu gezwungen, sich mit den Abgründen der menschlichen Seele auseinanderzusetzen. Für den bis dato noch vollkommen unbekannten Jungschauspieler Julius Feldmeier dürfte „Tore tanzt“ die Eintrittskarte ins Kinogeschäft sein: Feldmeier meistert die Hauptrolle mit Bravour und gibt eine eindrucksvolle Visitenkarte für weitere Leinwandprojekte ab.

    Fazit: Katrin Gebbe feiert mit ihrem beklemmend realistisch inszenierten Cannes-Beitrag „Tore tanzt“ ein starkes Langfilmdebüt, das in seiner Konsequenz und Radikalität nachhaltig verstört. Die Filmemacherin schildert mit einfachen Mitteln, wie der Religionspunk Tore in einen Strudel aus Gewalt gerät, aus dem er sich nur selbst retten kann – und es in seinem unerschütterlichen Glauben an Jesus nicht tut.

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