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    Chronic
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Chronic
    Von Carsten Baumgardt

    Das Filmfestival von Cannes war noch nie ein Hort für den klassischen Gute-Laune-Film, hier dominiert starker Arthouse-Tobak, die Maxime scheint zu lauten: Leiden statt lachen! Regisseur Michel Franco, der 2012 mit seinem fulminanten Teen-Drama „Después de Lucía“ die Nebenreihe Un Certain Regard gewann und nun erstmals am offiziellen Wettbewerb an der Côte d'Azur teilnimmt, hat dieses inoffizielle Motto offenbar verinnerlicht, denn der Mexikaner liefert bei seinem englischsprachigen Debüt den wohl deprimierendsten Film des Croisette-Jahrgangs 2015. Sein mysteriös-beunruhigendes Sterbe-Drama „Chronic“ ist trotz der etwas schwächeren zweiten Hälfte sehenswert, was nicht zuletzt an Hauptdarsteller Tim Roth („Pulp Fiction“) liegt. Der brilliert als manischer ambulanter Krankenpfleger David Wilson, der sich mit Haut und Haar seiner Arbeit verschrieben hat. Er engagiert sich weit über das Übliche hinaus und taucht in das persönliche Umfeld seiner (Sterbe-)Patienten ein. Das gefällt jedoch nicht allen...

    Regisseur Michel Franco eröffnet seinen Film mit einer raffiniert-eleganten Exposition: Es dauert fast 20 Minuten, bis man ansatzweise durchschaut, was dieser David treibt. Wie ein Detektiv muss der Zuschauer das Charakterpuzzle Stück für Stück selbst zusammensetzen - bis uns der Regisseur am Ende das irritierende Bild einer Figur (fast) ohne Geheimnis offenbart. Zunächst scheint es, als würde sich David aufopferungsvoll um seine schwerkranke Frau Sarah (Rachel Pickup) kümmern, doch dann wird klar, dass sie seine Patientin war und unter AIDS im Endstadium litt. Der Pfleger nistet sich im fremden Leben ein und passt sich ihm an, absorbiert förmlich seine Regeln. Gelegentlich nimmt er gegenüber Dritten sogar die Identität seiner Kundschaft an oder verknüpft deren Geschichten mit seiner eigenen. Aber die Wunden der Vergangenheit reißen immer wieder auf – mit seiner (Ex-)Frau Laura (Nailea Norvind) und der studierenden Tochter Nadia (Sarah Sutherland) hat er kaum Kontakt.

    Michel Francos Film besitzt mit seiner bedächtigen Erzählweise nicht ganz die emotionale Wucht von Michael Hanekes „Liebe“ (der 2012 mit der Goldenen Palme geehrt wurde), aber auch in „Chronic“ wird der Betrachter förmlich gezwungen, zum schwierigen Thema der Sterbehilfe Stellung zu nehmen, denn der obsessive David ist in seinem Drang, als helfender Engel in Erscheinung zu treten, unberechenbar. Er ist ein wohlmeinender Sonderling, bei dem man nie weiß, ob er seinen Patienten nicht im nächsten Moment mit dem Kopfkissen zu ersticken versucht. Eine Erklärung für dieses Verhalten gibt uns Michel Franco zunächst nicht, und als er diese in der zweiten Filmhälfte doch noch nachliefert und das Ganze mit einem fragwürdigen Ende garniert, verliert „Chronic“ ein wenig die erzählerische Balance. Eine genauere Antwort als sie Tim Roth mit seiner sensiblen Charakterstudie bis dahin gibt (eine herausragende Leistung und seine beste seit Jahren), wäre gar nicht nötig gewesen.

    Fazit: Bis zur problematischen Schlussgeraden ist „Chronic“ ein starkes, schwer durchschaubares, düsteres Sterbe-Drama mit einem superben Tim Roth.

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