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    Freistatt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Freistatt
    Von Christian Gertz

    In den 50er und 60er Jahren wurden in rund 3.000 staatlichen oder konfessionellen Heimen in der noch jungen Bundesrepublik Hunderttausende Kinder und Jugendliche „erzogen“: Der überwunden geglaubte Faschismus fand seine Fortsetzung hinter den Mauern vieler dieser Anstalten mit Züchtigungen, Arbeitszwang sowie auf unbedingten Gehorsam und Autoritätshörigkeit ausgerichteten Strukturen. Eine der härtesten Jugendfürsorgeeinrichtungen jener Zeit war die evangelische Diakonie Freistatt im Kreis Diepholz in Niedersachsen, die dort praktizierte „schwarze Pädagogik“ reflektiert Regisseur und Co-Drehbuchautor Marc Brummund in seinem Jugenddrama „Freistatt“ anhand eines emotional aufgeladenen Einzelschicksals nach wahren Begebenheiten. Seine Erzählung beginnt der selbst in der Nähe des Handlungsortes aufgewachsene Filmemacher dabei bewusst Ende der 60er Jahre, da ihm nach eigener Aussage, der „Kontrast zwischen der sexuellen Revolution und der stehengebliebenen Zeit in einem repressiven System“ besonders wichtig war. Der Gegensatz zwischen Freiheitsgestus und systematischer Unterdrückung wird tatsächlich überaus deutlich, aber für ein rundum überzeugendes Zeitporträt fehlt dem in der Hauptrolle hervorragend gespielten Film der inszenatorische und dramaturgische Feinschliff.

    Deutschland, 1968. Der 14-jährige Wolfgang (Louis Hofmann) genießt die Beschaulichkeit seiner niedersächsischen Kleinstadtheimat. Die Studentenunruhen und Vietnamkriegsproteste jener Zeit finden woanders statt, das Frisieren seines Mofas und die Eifersucht des Stiefvaters Heinz (Uwe Bohm) bestimmen Wolfgangs Alltag. Bald kommt es zum Eklat zwischen Heinz und Wolfgang, den auch die fürsorgliche Mutter Ingrid (Katharina Lorenz) nicht verhindern kann. Der Stiefvater sorgt schließlich dafür, dass der Junge in ein Fürsorgeheim für Schwererziehbare abgeschoben wird. Wolfgang landet in der entlegenen Diakonie Freistatt im niedersächsischen Moor - weit vor den Toren der Stadt. In der streng hierarchisch organisierten Welt des Heims kommt der Neue schlecht zurecht, schon bald lehnt er sich gegen den stockschwingenden Oberbruder Wilde (Stephan Grossmann) auf und wird hart bestraft. Als Wolfgang auch noch zarte Bande zu Angelika (Anna Bullard), der Tochter des Hausvaters Brockmann (Alexander Held) knüpft, reagiert dieser mit exzessiver psychischer und körperlicher Gewalt, der alle Insassen ausgeliefert sind…

    Regisseur Marc Brummund arbeitet sich an den typischen Konstellationen des Heimdramas und Gefängnisfilms ab, ohne ihnen viele ungewohnte Facetten abzugewinnen. So entpuppt sich die anfängliche scheinbare Beschaulichkeit von Freistatt (ein grausam ironischer Name) mit seinem großen Gemüsegarten, dem hobbygärtnerndem Hausvater und dem weitläufigen Gelände rasch als Trugbild und die Anstalt wird als von strengen Regeln und von Willkür zugleich beherrschter Ort der Grausamkeit offenbar. Sensible Außenseiter werden von sadistischen Erziehern gebrochen und für die Schüler (beziehungsweise Gefangenen) gilt: Jeder ist sich selbst der Nächste. Als sich Wolfgang dem gewalttätigen Oberbruder Wilde entgegenstellt, um einem schwächeren Insassen zu helfen, muss er lernen, dass die anderen Jungen in einem von Neid, Missgunst und Gewalt beherrschten Alltag keineswegs an seiner Seite stehen. Nur der dunkelhäutige Anton (Langston Uibel) ist vom Mut des „Neuen“ beeindruckt und die beiden ungleichen Gleichaltrigen werden Freunde. Aber auch diese Verbindung ist kaum mehr als eine Zweckgemeinschaft, die durch Wolfgangs Alleingänge immer wieder auf die Probe gestellt wird.  

    Wenn das Bild, das hier vom Mikrokosmos Erziehungsheim gezeichnet wird, nur wenig Eigenständigkeit hat, liegt das vor allem daran, dass die Nebenfiguren Stereotypen mit bloß behaupteten Eigenschaften bleiben. Denn „Freistatt“ ist sehr viel weniger ein Ensemblefilm als andere Werke mit vergleichbarem Sujet (wie etwa die von Regisseur Marc Brummund selbst als Vorbilder genannten „Boys Town – Teufelskerle“, „Die Verurteilten“ und „Sleepers“). Hier dreht sich vielmehr alles um den Protagonisten Wolfgang, die anderen Figuren sind unterbelichtet, die meisten Konflikte oberflächlich. Selbst bewährte Darsteller wie Uwe Bohm („Nordsee ist Mordsee“) als brutaler Stiefvater, Alexander Held („Tatort: Im Schmerz geboren“) in der Rolle des Hausvaters oder Max Riemelt („Napola“), der hier einen gemäßigten Erzieher verkörpert, sind unter diesen Voraussetzungen kaum mehr als Stichwortgeber und so steht und fällt der ganze Film letztlich mit seinem Hauptdarsteller Louis Hofmann („Tom Sawyer“). Der meistert die Herausforderung indes bravourös und zeigt eine beeindruckende Leistung, für die er als Bester Nachwuchsdarsteller mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet wurde.

    Auf den ersten Blick wirkt Louis Hofmanns Wolfgang mit seinem Engelsgesicht zwar, als könnte er kein Wässerchen trüben, aber der Jungschauspieler (Jahrgang 1997) lässt genau die richtige Spur von Härte, Verschlagenheit und Boshaftigkeit aufblitzen, um dem aufmüpfigen Jugendlichen die nötigen Ecken und Kanten zu verleihen. Und so ist der Protagonist der verlässliche Anker einer Erzählung, die vor Misstönen nicht gefeit ist. So erinnern die Szenen von der Arbeit der Jugendlichen im niedersächsischen Moor manchmal eher an einen Schulausflug in den 90er Jahren als an eine nahezu unmenschliche Plackerei drei Dekaden früher. Die Bedrohlichkeit der Situation wird andererseits immer wieder allzu plump durch einen aufdringlichen musikalischen Klangteppich beschworen und wenn hier gemeinsam in größter Verzweiflung Ritchie Havens‘ „Freedom“ intoniert wird, wirkt das für einen echten rebellischen Akt deutlich zu reflektiert (und von den Filmemachern zu kalkuliert). Doch der ungeschönte Blick auf das drastische Schicksal des Protagonisten, die tolle Leistung des Hauptdarstellers und die Empörung, die aus dem Wissen um die realen Hintergründe entspringt, machen „Freistatt“ dennoch zu einem kraftvollen Filmerlebnis.

    Fazit: Marc Brummund lenkt mit seinem Langfilmdebüt den Blick auf die skandalösen Zustände in einem kirchlichen Erziehungsheim der 1960er Jahre, wobei das Jugenddrama in erster Linie durch die imposante Darbietung von Louis Hofmann in der Hauptrolle überzeugt.

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