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    Die Wildente
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Wildente
    Von Antje Wessels

    Das 1884 von Henrik Ibsen verfasste Drama „Die Wildente“ zählt zu den bekanntesten Theaterstücken Skandinaviens. Mehrfach schon wurde es für die große Leinwand adaptiert, darunter auch in Deutschland: Hans W. Geissendörfer inszenierte die Familientragödie 1976 mit Bruno Ganz in der Hauptrolle. Noch bekannter ist allerdings die Version von Henri Safran, für die er 1984 unter anderem Jeremy Irons und Liv Ullman als Schauspieler gewinnen konnte. Der Australier Simon Stone haucht der 132 Jahre alten Vorlage mit seinem Langfilmdebüt „Die Wildente“ nun nicht bloß neues Leben ein, sondern setzt auch eigene Schwerpunkte. Seine Version ist zwar immer noch eine Geschichte über die Kunst der Verdrängung und die Frage nach familiären Werten. Aber passend zum englischen Originaltitel „The Daughter“ rückt mit der Tochter Hedvig hier eine andere Figur als gewohnt in den Fokus, die als Bauernopfer der heraufbeschworenen Misere neue Blickwinkel auf die zwei zentralen zerrütteten Familien zulässt.

    Als sein Vater Henry (Geoffrey Rush), ein Holzunternehmer in der Krise, seine deutlich jüngere Freundin Anna (Anna Torv) heiraten möchte, kehrt Sohn Christian (Paul Schneider) in sein Elternhaus zurück. Seit sich seine Mutter hier vor Jahren das Leben nahm, ist das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater angespannt. Während der letzten Hochzeitsvorbereitungen trifft Christian im Supermarkt auf seinen ehemaligen Jugendfreund Oliver (Ewen Leslie) sowie dessen Ehefrau Charlotte (Miranda Otto). Das Paar führt ein glückliches Leben mit ihrer Tochter Hedvig (Odessa Young), die selbst gerade die Wirren der ersten großen Liebe durchlebt. Während die Männer in ihrer Vergangenheit schwelgen, tritt nach und nach ein Geheimnis zutage, das nicht nur die Freundschaft zwischen Christian und Oliver auf die Probe stellt, sondern auch die gesamte Hochzeitszeremonie in ein anderes Licht rückt…

    Die titelgebende Wildente ist Teil der Eröffnungsszene und taucht auch in den folgenden eineinhalb Stunden immer wieder symbolisch auf, um die Kernaussage des Films zu unterstreichen. Als Hobbyjäger Henry den flauschigen Gesellen bei einem Jagdausflug am Flügel trifft, bringt er es nicht übers Herz, den schwer verletzten Vogel anschließend von Angesicht zu Angesicht zu erschießen. Er bringt ihn stattdessen zu seinem Kumpel Walter (Sam Neill), der auf dem Grundstück seines Sohnes Oliver ein großes Gehege für allerlei Wildgetier errichtet hat. Mithilfe seiner Enkelin Hedvig kümmert er sich aufopferungsvoll um den gefiederten Zweibeiner; nicht das einzige Problem Henrys, um das sich die befreundete Familie in den vergangenen Jahren kümmern musste. Wie genau sich die freundschaftlichen Konstellationen zwischen Henry und Walter, Christian und Oliver sowie den Frauen und Teenagerin Hedvig entwickelt haben, erfährt der Zuschauer erst nach und nach. In den 94 Minuten vergeht keine Szene, in der dem familiären Beziehungsgeflecht keine neuen Facetten hinzugefügt werden. Dass sich Vater und Sohn seit dem Tod der Mutter nicht grün sind, wird zwar von Beginn an deutlich, doch erst wenn sich im letzten Viertel die genauen Umstände ihres Sterbens offenbaren, hat diese Erkenntnis auch Auswirkungen auf den Rest der Familien. Dasselbe gilt für Oliver und Hedvig, deren Vater-Tochter-Liebe ins Wanken gerät, als sich ein entscheidendes Detail innerhalb des Mikrokosmos Familie verändert, der als Stein des Anstoßes eine wahre Kettenreaktion tragischer Ereignisse auslöst. Ob der von Anfang an als Wissender ins Geschehen involvierte Christian gut daran getan hätte, lieber Stillschweigen zu bewahren und sinnbildlich die Ente zu töten, lässt Simon Stone im offenen Ende angenehm unbeantwortet.

    Steht zu Beginn noch der von Paul Schneider („Café Society“) mit undurchsichtigem Charme verkörperte Christian im Mittelpunkt des Geschehens, verlagert sich die Erzählung mit fortschreitender Dauer auf Hedvig. Odessa Young („Looking For Grace“) spielt die zwischen jugendlichem Leichtsinn und überraschend schwermütiger Weisheit chargierende Teenagerin mit viel Feingefühl. Die kindliche Euphorie beim Anblick der verletzten Ente nimmt man ihr ebenso ab wie den Schmerz nach ihrem verpatzten ersten Mal mit Freund Adam (Wilson Moore), dessen anschließende Gleichgültigkeit umso herzzerreißender ist, weil einem eine Figur wie Hedvig nur schwer egal sein kann. Im Film werden sämtliche Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen. Immer wieder finden für sie bedeutende Ereignisse statt, von denen die junge Frau aber erst viel zu spät erfährt. Wenn sich all diese Hilflosigkeit im Anbetracht der familiären Katastrophe schließlich in einem inbrünstigen Nervenzusammenbruch entlädt, ist diese markerschütternde Szene mitunter kaum zu ertragen. Dagegen spielen die Altmeister wie Geoffrey Rush („Die Bücherdiebin“), Sam Neill („Jurassic Park“) oder Miranda Otto („The Homesman“) fast schon zurückhaltend, stellen sich dabei aber immer in den Dienst ihrer vielschichtigen Rollen, die in einem an „Twin Peaks“ erinnernden Setting aus Sägewerk, dichten Wäldern und noblen Anwesen die perfekte Umgebung für ihre undurchsichtigen Familienangelegenheiten gefunden haben.

    Fazit: Simon Scott gelingt mit seiner atmosphärisch dichten Adaption von Henrik Ibsens „Die Wildente“ ein herbes, durchgehend stark gespieltes Familiendrama, das durch die ungewöhnliche Wahl seiner Hauptfigur zusätzlich an Intensität gewinnt.

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