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    Streik
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Streik

    Reflexion statt Revolution

    Von Sascha Westphal

    Am Anfang steht eine Erinnerung. „Streik“, dieses Drama eines ungleichen Arbeitskampfes, ist zwar nicht die Fortsetzung von Stéphane Brizés vor vier Jahren in Cannes uraufgeführtem Film „Der Wert des Menschen“, aber es gibt deutliche Verbindungen zwischen diesen schonungslosen Porträts der heutigen Arbeitswelt. Brizé setzt in beiden Filmen nicht nur auf einen sehr ähnlichen, dokumentarisch anmutenden Stil und auf denselben Hauptdarsteller, Vincent Lindon. Er spielt auch ganz gezielt mit Bildern und Situationen, die einem aus „Der Wert des Menschen“ im Gedächtnis geblieben sind. Eine dieser Szenen aus dem Quasi-Vorgänger, die durch „Streik“ noch einmal ein anderes Gewicht bekommen, zeigt den arbeitslos gewordenen Arbeiter Thierry Taugourdeau bei einem Treffen mit Gewerkschaftsvertretern, die mehr als ein Jahr zuvor für den Erhalt seines Arbeitsplatzes gekämpft haben. Sie wollen diesen Kampf nun mit anderen, juristischen Mitteln fortsetzen. Doch daran hat Thierry keinerlei Interesse. Er ist des ewigen Ringens und Hoffens müde und will nicht mehr zurückblicken, selbst wenn er sich dadurch schadet. „Streik“ zeigt nun die andere Seite und begleitet die von Entlassung und Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen, die um keinen Preis aufgeben wollen, für die es nichts als den Kampf gibt, der sie nach und nach auffrisst.

    Vor zwei Jahren stand das Perrin-Werk im südfranzösischen Agen kurz vor der Schließung. Es hieß, die Fabrik, die sich im Besitz eines deutschen Großkonzerns befindet, sei nicht mehr rentabel. Daraufhin haben sich die dortigen Arbeiter zu massiven Zugeständnissen bereiterklärt. Die Wochenarbeitszeit hat sich bei gleichbleibendem Lohn um mehrere Stunden erhöht. Außerdem haben die Arbeitnehmer auf sämtliche Prämienzahlungen verzichtet. Im gleichen Zug hat der Konzern sich verpflichtet, die gesamten Arbeitsplätze mindestens fünf Jahre zu sichern und erst dann die Situation neu zu bewerten. Doch nun setzt sich der Konzern über diese Vereinbarung hinweg. Trotz der Gewinne, die gemacht wurden, soll das Werk in Agen geschlossen werden. 1.100 Arbeiter und Angestellte würden auf einen Schlag ihre Jobs verlieren, und das in einer Region, in der es so schon kaum Arbeitsplätze gibt. Um die Schließung zu verhindern, haben die Arbeiter unter der Führung des Gewerkschafters Laurent Amédéo (Vincent Lindon) ihre Arbeit niedergelegt und das Werk blockiert. Ein mehrere Monate währender Arbeitskampf beginnt, in dem die Streikenden gegen Wände anrennen und sich mehr und mehr selbst aufreiben.

    Laurent im Arbeitskampf.

    Der ruhige, fast schon kalt-distanzierte Blick, mit dem Stéphane Brizé in „Der Wert des Menschen“ die Situation eines arbeitslosen Mannes um die 50 betrachtet hat, weicht in „Streik“ einer hektischen Unmittelbarkeit. Nachgestellte Fernsehnachrichten wechseln sich mit Bildern ab, die immer ganz nah an den Streikenden und ihren Gegner, den Vertretern des Konzerns, sind. Ein größerer Überblick scheint unmöglich. Eric Dumonts Kamera zieht einen mitten in die erhitzten Diskussionen und die oft schnell eskalierenden Aktionen hinein. Als die um ihre Jobs kämpfenden Arbeiter sich im Sitz des französischen Arbeitnehmerverbandes versammeln, um sich und ihrer Sache endlich Gehör zu verschaffen, kommt es schließlich zu einer ersten Konfrontation mit der Polizei. Die Situation gerät außer Kontrolle, und genau wie die Arbeiter gerät auch der Betrachter in eine Art Kessel. Es gibt kein Entkommen aus dieser Konfrontation mit der Staatsmacht. Die Verhältnisse lassen eine Deeskalation nicht mehr zu. Aus Frust und Enttäuschung erwächst Aggression und Zorn.

    Die inszenierten Fernsehbilder, die den Film leitmotivisch durchziehen, deuten es in aller Klarheit an. Stéphane Brizé hat seinen zweiten Film über die Gesetze des globalen Marktes direkt den alltäglichen Nachtrichten entrissen. Arbeitskämpfe wie ihn Laurent Amédéo und seine Mitstreiter führen, finden in Westeuropa nahezu ständig statt. Fabriken, die durchaus rentabel sind, werden geschlossen, und die Produktion wird in ein anderes Land verlegt, in dem die Arbeiter billiger sind. Die Logik des Profits triumphiert über alles andere. Genau daran haben wir uns mehr oder weniger gewöhnt. Alle die, die nicht selbst betroffen sind, nehmen diese Nachrichten kaum weiter wahr. Nur wenn ein Protest gegen eine Werkschließung eskaliert, wenn aus einem Arbeitskampf ein echter Straßenkampf wird, wird die Öffentlichkeit aufmerksam, und die Entrüstung, meist über das Verhalten der Arbeiter, ist groß. Gegen diese Indifferenz, die das Vorgehen der Konzerne noch begünstigt, filmt Brizé an. Er gibt den Vorgängen, die sich in den Fernsehnachrichten versenden, ihre existentielle Bedeutung zurück. Die Arbeiter, die ihren Job und damit letztlich auch ihre Zukunft verlieren, bekommen Gesichter. Geschichten und Schicksale werden, ohne dass der Film en detail erzählen müsste, fassbar.

    Nicht Arbeitskampf, sondern Arbeitskrieg

    Wie schon in „Der Wert des Menschen“ ist Vincent Lindon auch in „Streik“ der einzige professionelle Schauspieler. Er ist das Gravitationszentrum, um das alle anderen kreisen, und gibt ihnen genau den Halt, den sie brauchen. Schon nach wenigen Szenen fällt kaum noch auf, dass Brizé vor allem mit Laien arbeitet. Die Direktheit der Szenen und des Spiels erschaffen eine Welt, die das Publikum umschließt. Der Film wird zu einer immersiven Erfahrung. Und wie die Arbeiter, die von Lindons Gewerkschafter teils mitgerissen, teils abgestoßen werden, positioniert sich auch der Betrachter ständig zu Amédéo. Natürlich hat er Recht, wenn er verbissen für jeden einzelnen der 1.100 Arbeitsplätze kämpft. Keine noch so hohe Abfindung kann auf Dauer den Verlust der Arbeit ausgleichen. Außerdem schafft erst seine Haltung, in der es eben nicht um Geld, sondern um den Lebenssinn geht, der aus der Arbeit erwächst, ein auch gedankliches Gegengewicht zu dem Gesetz des Marktes, das allein Zahlen verpflichtet ist.

    Aber auch die, die anders als er einen letztlich aussichtslosen Kampf nicht weiterführen wollen, die nur noch hoffen, höhere Abfindungen zu erringen, sind nicht im Unrecht. Sie folgen anders als Amédéo ganz pragmatischen Überlegungen. Jeder Euro mehr verschafft den Entlassenen und ihren Familien etwas mehr Luft zum Atmen. Und wer will sie dafür verurteilen. Und genau an diesem Dilemma setzen die Arbeitgeber an. Die Aktionäre, denen sie verpflichtet sind, bilden eine geschlossene Front, während die Arbeiterschaft zwangsläufig irgendwann in Lager zerfällt. Der Krieg, auf den Brziés Originaltitel „En Guerre“ verweist, ist im Prinzip von Anfang an entschieden.

    Fazit: Zusammen mit seinem Hauptdarsteller Vincent Lindon gelingt es Stéphane Brizé die Mechanismen des modernen kapitalistischen Systems in aller Deutlichkeit offenzulegen. Sein Panorama eines in sinnloser, aber doch verständlicher Gewalt gipfelnden Arbeitskampfes ist dabei weit von simpler Agitprop entfernt. Denn Brizé ruft eben nicht zur Revolution, sondern zu Reflexion auf.

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