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    The 15:17 To Paris
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    The 15:17 To Paris
    Von Andreas Staben

    Seine Weltkarriere begann mit der Verkörperung von mythisch überhöhten, archetypischen Anti-Helden in der „Dollar“-Trilogie von Sergio Leone und in den „Dirty Harry“-Filmen. 40 Jahre später hat sich der Schauspieler Clint Eastwood weitgehend in den Ruhestand zurückgezogen und der Regisseur interessiert sich inzwischen mehr für so etwas wie den unaufgeregten Heroismus eines ganz normalen Flugkapitäns, der einfach nur seine Arbeit tut und dabei mit größter Selbstverständlichkeit Hunderten Passagieren das Leben rettet. Während das Tatsachendrama „Sully“ 2016 mit Tom Hanks in der Hauptrolle aber noch starbesetzt war, geht der inzwischen 87-jährige Altmeister mit seinem neuen Film „The 15:17 To Paris“ nun noch einen Schritt weiter in seiner Erkundung des Heldentums im realen Leben – mit einem faszinierenden, aber auch zutiefst uneinheitlichen Ergebnis.

    Eastwood widmet sich dem Anschlag in einem Schnellzug auf der Strecke von Amsterdam nach Paris am 21. August 2015, als ein mit einem automatischen Gewehr, einer Pistole und einem Messer bewaffneter Mann Schüsse auf Fahrgäste abfeuerte und daraufhin von mehreren Passagieren überwältigt wurde, die so verhinderten, dass es zu Todesopfern kam. Drei von diesen beherzt eingreifenden Männern stehen im Mittelpunkt des Films, drei junge Amerikaner auf Europareise, die sich seit Kindheitstagen kennen. Ihr Porträt zeichnet Eastwood vom Kennenlernen in der Schule bis zu den Tagen nach der schicksalhaften Bahnfahrt. Über weite Strecken ist „The 15:17 To Paris“ dabei eine ziemlich lose Abfolge biografischer Szenen, an deren Ende 20 Minuten eines packenden Thrillers stehen. Der besondere Kniff dabei ist, dass sich das porträtierte Trio im Erwachsenenalter selbst verkörpert, obwohl es keinerlei Schauspielerfahrung hat. So sind sie dann auch nicht im klassischen Sinne glaubwürdig, weil man sie oft buchstäblich spielen sieht – aber dennoch wirken sie dabei immer echt. Normalität und Außergewöhnliches, Alltagsleerlauf und Spannungsdramaturgie, Wahres und Falsches, Heldentum und Menschlichkeit fallen in Eastwoods Film ineinander.

    Die Freunde Spencer Stone (William Jennings) und Alek Skarlatos (Bryce Gheisar) sind Außenseiter an ihrer katholischen Schule in Sacramento, die Lehrer halten ihre alleinerziehenden Mütter für überfordert und schicken die beiden Jungs ziemlich willkürlich immer wieder zum Rapport beim Rektor. Bei einer dieser Gelegenheiten lernen sie Anthony Sadler (Paul-Mikél Williams) kennen, der neu an der Schule ist. Von nun an spielen sie zu dritt im Wald Zweiter-Weltkriegs-Schlachten nach, bis erst Anthony wegzieht und dann Alek. Sie bleiben aber ständig in Kontakt. Spencer und Alek landen beim Militär, während Anthony studiert. Im Sommer 2015 beschließen sie, zusammen nach Europa zu reisen…

    Nach einer Einleitung mit dem noch gesichtslosen Attentäter am Bahnhof von Brüssel, wo er in den Zug einsteigt, springt Clint Eastwood zurück in die Kindheit der Protagonisten. Von nun an geht es abgesehen von ganz kurzen, vorausdeutenden Einsprengseln vom Geschehen an Bord des Zuges, mit denen ein Gefühl der Vorahnung erzeugt wird, wie es später auch Spencer beschleicht, chronologisch vorwärts. Und dabei bekommt man etwa eine Stunde lang wenig zusammenhängende Szenen ohne große dramaturgische Durchformung zu sehen – zuerst mit Kinderdarstellern, dann mit den echten Helden selbst. Oft sind diese Szenen banal, mal gestelzt, mal irritierend, mal naiv, manchmal alles gleichzeitig, aber meistens zumindest treffend.

    Wenn Spencer und Anthony der italienischen Gastwirtin mit spätpubertärem Einverständnis unter den Rock linsen oder das Trio in einem Amsterdamer Club tanzen geht, dann ist der Senior Eastwood nicht wirklich in seinem Element. Doch so wie das etwas übereilte Abklappern von Postkartensehenswürdigkeiten und andere von außen betrachtet leicht etwas albern erscheinende Touristenrituale sind diese Szenen in ihrer Banalität nicht nur ein wenig anstrengend, sondern wirken eben meist auch ganz normal. Genauso präsentiert uns Eastwood bedeutungsschwangere Dialoge, wie sie jungen Leuten eben manchmal über die Lippen kommen, oder inbrünstige Gebete mit der größtmöglichen Selbstverständlichkeit.

    Dasselbe gilt auch, wenn der elfjährige Spencer dem neuen Freund Anthony voller Stolz sein beträchtliches Waffenarsenal (mit einem veritablen Jagdgewehr als Krönung) vorführt. Bei dieser Szene bleibt einem als durchschnittlich zivilisierten Europäer der Mund offenstehen, für Eastwood ist sie das Normalste von der Welt. Der begeisterte kindliche Umgang mit Waffen führt hier auf direktem Wege zum Militär. Spencer sieht in Soldaten ganz einfach Menschen, die ihrem Land dienen und dabei anderen Menschen helfen. Er selbst betont immer wieder, dass er helfen will, und als die Gelegenheit kommt, tut er genau das – und riskiert dabei sein Leben.

    Eastwood zeigt uns seine drei Helden als die Verkörperung dessen, was er sich unter aufrechten Amerikanern vorstellt. Das hat einen unübersehbar konservativen Einschlag, aber auch eine versöhnliche Seite und die steht hier abgesehen von ein paar Seitenhieben auf sich progressiv gebende, aber verständnislose Lehrer, im Vordergrund. Daher interessiert sich der Regieveteran auch nicht weiter für den Attentäter und den möglichen terroristischen Hintergrund. Und so wie sich hier Durchschnittsbürger im Thomas-Müller-Trikot als Helden entpuppen, so steckt in dieser mit größter Einfachheit gefilmten Alltagschronik im Schlussviertel schließlich auch noch eine virtuose Thriller-Miniatur. Im Epilog sorgt dann der echte französische Präsident François Hollande bei einer Ordensverleihung für emotionale Worte, während sein schlecht dazugetrickster Doppelgänger (das Originalmaterial der Zeremonie von 2015 wurde mit nachgedrehten Aufnahmen kombiniert, in denen ein Schauspieler Hollande verkörpert) daran erinnert, wie eng das Wahre und das Falsche häufig beieinanderliegen.

    Fazit: Ein durchwachsener und zugleich faszinierender Film – Clint Eastwood zeigt sich im hohen Alter erstaunlich experimentierfreudig.

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