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    Die Odyssee
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Odyssee

    Eine gute Möglichkeit, Kindern das Thema Flucht näherzubringen

    Von Karin Jirsak

    Ein mythisches Märchen über Flucht, erzählt in animierten Ölbildern – die Regisseurin und Animationskünstlerin Florence Miailhe schafft mit „Die Odyssee“ eine ambitionierte Ästhetik, die für heutige Sehgewohnheiten auf den ersten Blick fremd und abstrakt erscheint, aber ausdrucksvoll und faszinierend wird, wenn man sich auf sie einlässt. Heldin und Held der Irrfahrt, die wir als Zuschauer*in miterleben, sind Kyona und Adriel. Die Geschwister müssen aus ihrem (fiktiven) Dorf fliehen und werden vom Rest der Familie getrennt. Wie Odysseus werden die beiden Kinder an gefährliche Orte getrieben und müssen Feinden entkommen. Wie Hänsel und Gretel verirren sie sich im Wald, treffen auf Hexen, Unholde und gute Geister...

    Ein Überfall. Wie Schatten kommen sie in das Dorf, zerren die Menschen aus den Häusern, legen Brände. Diesmal sind Kyona und ihre Familie entkommen, doch die Männer mit den Waffen werden zurückkehren. Die Familie entschließt sich zur Flucht. Bei einer Zugkontrolle werden die älteste Schwester Kyona (deutsche Sprecherin: Derya Flechtner, als Erwachsene: Hanna Schygulla) und ihr jüngerer Bruder Adriel (Max Asmus) von den Eltern und den anderen Geschwistern getrennt. Die beiden schließen sich einer Gruppe von Straßenkindern an und finden bei ihrem Anführer Iskender (Nicolas Rathod) Freundschaft und Schutz. Doch die Gemeinschaft ist nur von kurzer Dauer: Immer wieder tauchen Menschenhändler im Zeltlager auf und entführen weitere Kinder...

    Kyona und Adriel sind auf der Flucht - und erinnern mit ihren Erfahrungen an Odysseus sowie Hänsel & Gretel.

    Als Inspirationsquellen nennt die Regisseurin u. a. die Skizzenbücher ihrer Mutter, die im Zweiten Weltkrieg alleine mit ihrem Bruder in die unbesetzte französische Zone gelangte, sowie Erzählungen der Urgroßmutter über die Flucht der Familie vor den antisemitischen Pogromen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aus diesem und anderem biographisch-historischem Material entwickelte Florence Miailhe zusammen mit der Autorin Marie Desplechin ihr Märchen über das Erwachsenwerden im Zeichen von Vertreibung, Flucht und Migration.

    Die Form untergräbt dabei erstaunlicherweise nicht den Realismus der Erzählung, sondern kehrt ihn vielmehr ins Poetische. Auf diese Weise wird es möglich, Themen wie Vertreibung und Identitätsverlust so zu zeigen, dass sie auch für Kinder verständlich werden, ohne sie mit komplizierten oder zu expliziten Darstellungen zu überfordern. Gewalttaten, sexuelle Ausbeutung und andere reale Grauen werden nicht direkt gezeigt, schwingen aber als Andeutungen in den düsteren Farben und Schatten mit, die den Verfolgern zugeordnet werden. Immer wieder werden sie von den farbenfrohen und lebendigen Held*innen verdrängt und überlagert und – jedenfalls für den Moment – besiegt.

    Der Film ist eine gute Möglichkeit, um mit (seinen) Kindern über das Thema Flucht zu sprechen.

    Eine sehr dynamische und eigensinnige Ästhetik, die unsere Rezeptionsgewohnheiten herausfordert und auf den ersten Blick wie ein Anachronismus wirkt. Im fluiden Zusammenspiel mit den Hintergründen erinnern die Figuren eher an die Malerei der Moderne und könnten kaum weiter entfernt sein von den süßlichen Computergesichtern, die wir im westlichen Teil der Welt von den meisten Animationsfilmen kennen.

    Die Technik, die Kyona und die anderen zum Leben erweckt, ist ebenso speziell wie aufwändig: Die Ölfarbe wurde von Miailhe und ihrem Animationsteam in Schichten auf ein Glas direkt unter der Kamera aufgetragen. Ergebnis dieses Verfahrens ist eine Gestaltung, die eine gewisse emotionale Distanz schafft und die Geschichte auch dadurch ins Allgemeingültige erhebt. Ein Anspruch, der bei Miailhe auch die gedankenvolle Verbindung von Form und Inhalt definiert: Was das Märchen und das Thema Flucht verbindet, ist die Zeitlosigkeit. Schon immer wurden Märchen erzählt und schon immer waren Menschen gezwungen, ihre Länder zu verlassen, auf der Flucht vor Krieg und Hunger, auf der Suche nach einem besseren Ort für ihre Familien. Gerade heute und gerade für die Jüngeren ist es wichtig, diese Geschichten zu erfahren und über sie zu sprechen. „Die Odyssee“ kann dazu einen sehr guten Anstoß geben.

    Fazit: Inhaltlich wichtiges, sensibel erzähltes und ästhetisch einzigartiges Coming-of-Age-Märchen zum Thema Flucht, das sich mit entsprechender Begleitung auch dazu eignet, um die leider wieder hochaktuelle Problematik gemeinsam mit Kindern zu thematisieren.

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