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    Eldorado
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Eldorado
    Von Christoph Petersen

    Als der 1941 geborene Schweizer Markus Imhoof noch ein kleiner Junge war, nahmen seine Eltern ein Flüchtlingskind bei sich auf. Eigentlich hatte er sich ja einen großen Bruder gewünscht, aber am Bahnhof wurden vom Roten Kreuz schon Listen angefertigt, damit die Verteilung nicht wie im Tierheim abläuft, und so kam das italienische Flüchtlingsmädchen Giovanna in die Familie. Es ist diese ganz persönliche Geschichte, die den 76-jährigen „More Than Honey“-Regisseur dazu bewegt hat, mit „Eldorado“ einen Dokumentarfilm zu drehen, in dem er die Erfahrungen heutiger Flüchtlinge mit seinen eigenen Erinnerungen an Giovanna zusammenbringt. Das klingt vielversprechend, aber das Ergebnis ist zumindest in der ersten halben Stunde ziemlich ernüchternd. Wenn Imhoof zu Beginn auf einem Marineschiff mitfährt, das vor der lybischen Küste bis zu 1.800 Bootsflüchtlinge an Bord nimmt und nach Italien bringt, dann ist das der schwächste Teil des Films. Denn Imhoof reproduziert hier lediglich die hinlänglich bekannten Bilder von übervollen Booten, erschöpft ihre Wasserflaschen umklammernden Flüchtlingen oder knatternden Rettungshelikoptern. Dazu erreichen die Bilder nur selten das Kinoformat von zum Beispiel Ai Weiweis „Human Flow“.

    Trotzdem gibt es auch hier schon einige starke Momente, etwa wenn das medizinische Personal am Kai die Flüchtlinge in Empfang nimmt, ihnen den Mund ausleuchtet und eine Marke mit Nummer an den Kragen heftet. Selbst wenn die Mediziner dabei eine absolut höfliche Professionalität an den Tag legen, kann man sich bei diesen Bildern des Vergleichs mit einem Sklavenmarkt kaum erwehren. Und tatsächlich werden viele der Neuankömmlinge bald wie moderne Sklaven für einen Hungerlohn schuften, denn wenn der Staat versagt, dann bleibt nur die Mafia, die die Frauen in die Prostitution und die Männer auf die Tomatenfelder der dank Schwarzarbeit florierenden italienischen Landwirtschaft schickt. Imhoofs Besuch in einem behelfsmäßig zusammengeschusterten Zelt-Ghetto mit miserabelsten hygienischen Bedingungen und ausbeuterischen Abhängigkeitsverhältnissen zählt auf jeden Fall zu den eindringlichsten Momenten von „Eldorado“, selbst wenn der Filmemacher mit dem Einspielen von platter Spannungsmusik unnötig die Aufmerksamkeit weg von den Geschichten der Flüchtlinge und hin zu seinem eigenen heimlichen Einsatz als Filmemacher lenkt. Weil die Mafia-Aufpasser extrem aggressiv auf Kameras reagieren, kann er dort nämlich nur unter hohem Risiko undercover drehen.

    Die Parallelen zwischen Giovannas Schicksal und heutigen Fluchterfahrungen werden im Verlauf des Films immer klarer, der Aufhänger ist also keinesfalls nur ein Ausstellen der persönlichen Betroffenheit Imhoofs, sondern eine fruchtbare dramaturgische Triebfeder. Zudem ist es Giovannas Stimme, die den Regisseur im Zwiegespräch immer wieder daran erinnert, dass er auch dann noch auf der anderen Seite steht, wenn er sich an Bord eines Militärschiffs oder in eine Verwahrungseinrichtung begibt: Er wird die Fluchterfahrung nie am eigenen Leib nachvollziehen können. Dafür hat Imhoof allerdings ein gutes Händchen, wenn es darum geht, globale Probleme ganz nüchtern und unaufgeregt so zu verdichten, dass sie nicht verfälschend verkürzt werden, sondern der Nagel in aller Knappheit auf den Kopf getroffen wird. So erzählt er etwa von einem Afrikaner, der freiwillig in sein Land zurückkehrt – dafür zahlt ihm der Schweizer Staat bis zu 3.000 Franken als Starthilfe (ein Schnäppchen im Vergleich zu den 15.000 Franken, die eine Zwangsabschiebung kostet). Der Mann möchte sich von dem Geld zwei Kühe kaufen – aber schon kurz darauf gehen die EU und die afrikanischen Staaten ein Freihandelsabkommen ein, dass die zollfreie Einfuhr von europäischer Milch nach Afrika ermöglicht. Und mit den stark subventionierten Preisen der EU-Milch können die Bauern vor Ort nicht mithalten, weshalb ihnen schließlich keine andere Möglichkeit mehr bleibt, als wieder Richtung Europa zu blicken. Ein abgefucktes System.

    Als das titelgebende Eldorado, jenes sagenumwobene Goldland, entpuppt sich Europa jedenfalls für keinen der Flüchtlinge. Es wird zwar nie visuell aufgelöst, die Kamera zoomt also nicht zurück und offenbart das ganze Bild, aber wer genau hinsieht, der wird auch so erkennen, dass das knittrige, unter dem „Eldorado“-Titelzug zu Beginn eingeblendete Gold in Wahrheit nichts anderes ist als eine dieser Wärmefolien, in die die auf hoher See oder am Strand geretteten Flüchtlinge oft von Ersthelfern eingepackt werden. „Eldorado“ ist eben ein Film über zerschmetterte Hoffnungen – und davon erzählt auch die überraschend endende Geschichte von Imhoof und Giovanna. Eine Freundschaft, die so stark war, dass sie nach mehr als 60 Jahren noch einen Film ausgelöst hat, der außer Konkurrenz im Wettbewerb der Berlinale seine Weltpremiere feiert und trotz der Startschwierigkeiten dann doch noch eine ganze Reihe aufschlussreicher Erkenntnisse über die Fluchterfahrung zutage fördert.

    Fazit: Ein angenehm nüchterner, empathischer und persönlicher Film über die Flüchtlingssituation, der zu Beginn allerdings eine Weile braucht, um nicht nur bekannte Bilder zu reproduzieren und zu eigenen Geschichten zu finden.

    Wir haben „Eldorado“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film außer Konkurrenz im Wettbewerb gezeigt wird.

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