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    Dead Souls
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Dead Souls
    Von Christoph Petersen

    Nachdem er dank seiner Mammut-Dokumentationen wie „West Of The Tracks“ über den Niedergang eines Industriegebiets (9 Stunden und 10 Minuten) oder „Crude Oil“ über Ölfeldarbeiter in der Mongolei (14 Stunden) zumindest unter Genre-Kennern schon länger und völlig zu Recht gehypt wurde, ist dem chinesischen Regisseur Wang Bing 2017 mit der nur 86 Minuten kurzen Doku „Mrs. Fang“ über eine im Kreise ihrer Familie sterbende alte Frau auch endlich ein breiterer Durchbruch im internationalen Filmfestivalzirkus gelungen.

    Neben seinem Aufstieg zu einem der führenden Dokumentarfilmer unserer Zeit hat Wang Bing mit dem 2010 beim Filmfestival in Venedig uraufgeführten „The Ditch“ aber auch einen einzelnen Spielfilm gedreht, in dessen Zentrum eines der todbringenden Umerziehungs-Arbeitslager des maoistischen Chinas um 1960 steht. Als Teil seiner Recherchen interviewte Bing damals auch viele Überlebende jener Lager – und aus diesen gefilmten Gesprächen, erweitert um einige Aufnahmen aus den Jahren 2012 bis 2017, ist nun die Zeitzeugen-Dokumentation „Dead Souls“ entstanden.

    Eine der Zeitzeuginnen, die überlebt, aber nie vergessen haben.

    Mit seinen 8 Stunden und 16 Minuten ist „Dead Souls“ der längste Film, den der Autor dieser Kritik je auf einer Kinoleinwand gesehen hat (der bisherige Rekordhalter „A Lullaby To The Sorrowful Mystery“ wurde um exakt elf Minuten übertroffen). Aber wer jetzt glaubt, dass man seine Zeit beim Filmfestival in Cannes an der sonnigen Côte d'Azur doch wohl sinnvoller verbringen könnte, als quasi einen vollen Arbeitstag lang Chinesen in ihren Siebzigern und Achtzigern dabei zuzuhören, wenn sie von vor 50 Jahren erlittenen Höllenqualen erzählen, der irrt.

    „Dead Souls“ ist als Meisterstück jede einzelne seiner 496 Minuten würdig – und zwar als herausragende dokumentarische Arbeit ebenso wie als gerade noch rechtzeitig entstandenes Zeitzeugnis (viele der Interviewten sind inzwischen gestorben). Wang Bing lässt den Überlebenden dabei nicht nur im Gespräch ausreichend Raum (oft bleibt er einfach so lange still, bis seine Gegenüber einfach von alleine weitersprechen), sondern auch im Film: Viele der anekdotischen Erzählungen von grausamen Schicksalen gehen an die Halbstundenmarke und darüber hinaus.

    200 Gramm Nahrung pro Tag

    Weil Mao einmal gesagt hat, dass nur fünf Prozent der Menschen schlecht seien, was anschließend allerdings so ausgelegt wurde, dass exakt fünf Prozent der Menschen schlecht seien, von denen dann auch jeder einzelne gefunden werden musste, wurden ab 1957 zahlreiche Menschen zu Unrecht als politische Feinde in Umerziehungslager gesteckt. In „Dead Souls“ geht es speziell um die Überlebenden der in der Gansu Provinz im Nordwesten Chinas gelegenen Arbeitslager Jiabiangou und Mingshui.

    Nachdem die Gefangenen dort oft jahrelang ohne Verhandlung festgehalten wurden, gingen im Herbst und Winter 1960 die täglichen Rationen so weit zurück, dass jeder Häftling am Tag mit 200 Gramm Essen auskommen musste. Schnell wurde gar nicht mehr gearbeitet, stattdessen lagen alle nur noch hungernd und sterbend herum, oder sie aßen Blätter und Sträucher, woraufhin allerdings ihre Darmfunktion soweit nachließ, dass sie sich schließlich unter Inkaufnahme schwerster Verletzungen gegenseitig mit Stöckern den Kot aus dem Anus pulen mussten.

    Am Ende haben weniger als zehn Prozent überlebt, insgesamt forderten die Arbeitslager mehr als 1,3 Millionen Tote. Aber trotz dieser unvorstellbar großen Zahl bekommt man bei „Dead Souls“ nie das Gefühl, einfach eine repräsentative Auswahl zu sehen, stattdessen hat Wang Bing – trotz immer wieder ähnlich erzählter Elemente – unglaublich persönliche Schilderungen eingefangen. Und das liegt nicht nur an der ungewöhnlich langen Zeit, die er jedem einzelnen Interviewpartner einräumt, sondern auch an der intimen Gesprächssituation, die er immer wieder schafft.

    Ein doppeltes Zeitdokument

    Statt sie in einer ausgeleuchteten, unpersönlichen Studioumgebung quasi zu einer austauschbaren Masse zu degradieren, filmt Wang Bing die Menschen nicht nur bei sich zu Hause, er zieht auch ihren Alltag ganz bewusst mit in das Bild hinein, statt zu versuchen, alles vermeintlich Störende krampfhaft draußen zu halten. Straßengeräusche, Kaffeemaschinen, spielende Enkelkinder – das alles gehört hier ganz selbstverständlich dazu. Und wenn die Frau auf dem Sessel nebenan gerade etwas Interessanteres macht als der berichtende Ehemann, dann wandert die Kamera eben zu ihr und lässt den eigentlichen Protagonisten im Off weitererzählen.

    So wird „Dead Souls“ gleich zu einem doppelten Zeitdokument – während die Überlebenden von damals berichten, erkundet die von Wang Bing fast immer selbstgeführte Kamera zugleich auch ihr Leben 50 Jahre später. Deshalb ist es etwa auch gar nicht schlimm, wenn mal einer seiner Gesprächspartner zu den Camps gar nicht viel sagen will, außer dass es dort kein Picknick gewesen sei.

    Ihm bleibt nichts mehr - außer dem Alkohol und seinem Klavier.

    Trotzdem gehört gerade die Episode zu den stärksten des Films, wenn der Interviewte seine mit fast purem Alkohol gefüllte Eineinhalbliter-Plastikflasche zum Sinnbild für das heutige China erklärt und anschließend mit berührender Sorgfalt sein spiegelblank poliertes, in der Ecke stehendes Klavier pflegt, das so gar nicht in seine ansonsten eher tragisch eingerichtete Junggesellenbude (seine Frau hat ihn einst wegen seiner Inhaftierung verlassen) passt.

    Manchmal erkundet Wang Bing auch längere Seitenpfade, wenn er seine Gegenüber etwa nach dem Ende des Gesprächs noch mit der Kamera durch das Treppenhaus hinaus bis auf die Straße begleitet und sie - und mit ihnen auch ihre Geschichtsschilderungen - einmal mehr in der heutigen Welt verankert. Und nach dem Tod eines seiner Interviewpartner filmt er sogar dessen komplette Beerdigung inklusive der minutenlangen erst erfolglosen, dann überraschend versiert-improvisierten Versuche, seinen Sarg in die gerade so passende Grube zu wuchten.

    Die Nähe der Toten

    Das Gegenteil dieser tragikomischen Situation sind Wang Bings Besuche der Orte in der Wüste, wo einst die Lager standen. Während er in Jiabiangou noch eine Gruppe Überlebender begleitet, die hier als Opfergabe für die Toten von damals Geld und Essen verbrennen, endet der Film mit Aufnahmen des Lagers Mingshui, wo die Männer damals selbst viel zu schwach waren, um ihre wie die Fliegen verreckenden Mithäftlinge noch angemessen zu bestatten, weshalb sie so niedrig begraben liegen, dass der Wind nun regelmäßig ihre Gebeine freilegt.

    Wang Bing muss nicht mal großartig nach ihnen suchen, stattdessen stößt er alle paar Meter auf einen Schädel oder einen Beckenknochen, die er teilweise bis zu einer Minute lang für sich im Bild stehen lässt. Und nachdem wir acht Stunden lang den Geschichten der Überlebenden gelauscht haben, beschleicht einen in diesen letzten Momenten des Films das Gefühl, auch diesen namenlos verscharrten Toten ein Stück näher gekommen zu sein.

    Fazit: Ein Zeitdokument von unermesslichem Wert – und ein herausragender Dokumentarfilm, der es absolut wert ist, mit ihm einen ganzen Tag zu verbringen.

    Wir haben „Dead Souls“ im Rahmen der Filmfestspiele von Cannes 2018 gesehen, wo er als Special Screening gezeigt wurde.

     

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