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    Ammonite
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Ammonite

    Das (fiktive) Liebesleben einer Fossiliensammlerin

    Von Oliver Kube

    Im Fokus des Romantikdramas „Ammonite“ steht die Paläontologin und Fossiliensammlerin Mary Anning, die zu ihren Lebzeiten (1799-1847) vom männlichen Wissenschaftsestablishment aufgrund ihres Geschlechts und des Fehlens einer formalen Ausbildung konsequent herabgewürdigt wurde. Inzwischen gilt die in einfachsten Verhältnissen aufgewachsene Britin allerdings längst als bedeutende Pionierin in ihrem Forschungsgebiet und für Frauen in der Wissenschaft generell.

    Mary Anning war nie verheiratet und hatte auch keine Kinder. Als bekannt wurde, dass ein Film über sie gedreht wird, in dem auch eine fiktive lesbische Liebesbeziehung eine wichtige Rolle spielen soll, meldeten sich jedoch entfernte Verwandte und beschwerten sich über diesen Ansatz: Das Leben und Schaffen ihrer Vorfahrin sei auch so interessant genug – das müsse man nicht auf diese Weise sensationalisieren.

    Fakt und Fiktion

    Der Regisseur und Drehbuchautor Francis Lee verteidigte seine künstlerische Entscheidung wie folgt: Es gab schon so viele „Begradigungen“ schwuler und lesbischer historischer Persönlichkeiten, dass es seiner Ansicht nach erlaubt sein müsse, dies im fiktionalen Kontext auch einmal in die andere Richtung zu tun. Vielleicht sogar als eine Art Repräsentation all jener, deren Geschichten bisher gar nicht beziehungsweise nur auf verfälschte Art wiedergegeben worden sind. Zudem bezweifele er, dass eine ähnliche Aufregung entstanden wäre, wenn er Anning eine ebenso fiktive Liebschaft mit einem beliebigen Mann angedichtet hätte.

    Wie auch immer man zu den beidseitigen Argumenten stehen mag: „Ammonite“ ist so oder so ein emotional extrem stark berührender Film geworden, der elegant jeglichen Anflug von billigem Melodrama umschifft und mit zwei enorm nuancierten Schauspiel-Meisterleistungen aufwartet. Und ganz sicher wird er dazu beitragen, dass diese bemerkenswerte Frau sowie ihre erstaunlichen wissenschaftlichen Leistungen nicht in Vergessenheit geraten.

    Bei der Fossiliensuche am Strand kommen sich die beiden Frauen langsam näher.

    In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebt Mary Anning (Kate Winslet) zusammen mit ihrer Mutter (großartig: Gemma Jones) in der englischen Grafschaft Dorset an der Küste des Ärmelkanals. Dort betreibt sie ein kleines Geschäft, in dem sie am Strand gesammelte, fachlich perfekt restaurierte Urzeit-Fossilien an Touristen verkauft. Große, wissenschaftlich relevante und damit eigentlich sehr wertvolle Exponate stiftet sie hingegen dem British Museum. Aufgrund ihres Standes und ihres Geschlechts war es ihr unmöglich Paläontologie zu studieren. Dennoch gehört sie zu den führenden Forschern ihres Feldes. Ein Umstand, der den feinen Herren an den Universitäten und Museen durchaus bewusst ist, den sie aber trotzdem niemals öffentlich anerkennen würden.

    Eines Tages spaziert einer dieser Männer auf der Durchreise in ihren schäbigen Laden. Der joviale Mr. Murchison (James McArdle) wird begleitet von seiner Frau Charlotte (Saoirse Ronan), die nach einer privaten Tragödie unter Depressionen leidet. Der reiche Herr erkennt Marys finanziell verzweifelte Lage und sieht die Chance, allein und unbelastet in den Urlaub auf dem europäischen Festland reisen zu können. So engagiert er Fossiliensammlerin kurzerhand als eine Art Aufpasserin für seine Gattin. Nach einer frostigen Kennlernphase kommen sich die ungleichen Frauen näher – der Beginn einer leidenschaftlichen Beziehung, die den Verlauf beider Leben für immer verändern wird…

    Der zweite Volltreffer in Folge

    Schon mit seinem von der Kritik gefeierten, karg-kraftvollen Langfilm-Debüt „God‘s Own Country“, in dem sich ein irischer Jungfarmer in einen rumänischen Saisonarbeiter verliebt, berührte Francis Lee sein Publikum zutiefst. Aber der Regisseur und Drehbuchautor ist definitiv kein One-Hit-Wonder, denn mit „Ammonite“ gelingt ihm dieses Kunststück nun direkt nochmal. Dabei weisen die auf den ersten Blick so unterschiedlich anmutenden Filme bei genauerer Betrachtung zumindest eine zentrale Parallele auf:

    Denn auch hier ist es für den Zuschauer zunächst nicht einfach, Sympathie für die Hauptfigur aufzubauen. Bei „God's Own Country“ geht es um einen jungen Mann, der sich mitunter sogar mit roher Gewalt gegen seine eigenen Empfindungen und das Versprechen eines erfüllten Daseins auflehnt. In „Ammonite“ wirkt es hingegen zunächst so, als wäre Mary im Inneren selbst genauso kalt und schroff wie die karge Küstenlandschaft im Südwesten Englands, die von Kameramann Stéphane Fontaine („Ein Prophet“) mit ausschließlich natürlichem Licht sowie graustichigen, auf den Himmel abgestimmten Farbtönen eingefangen wird.

    Charlotte weiß lange nicht, ob sie ihrer schroffen Gastgeberin wirklich ihre Gefühle offenbaren sollte.

    Während Saoirse Ronan („Little Women“) uns das Innenleben ihrer Figur wie ein offenes Buch präsentiert, spielt Kate Winslet („Avatar 2“) ihren Part betont verschlossen. Dieser harsche Kontrast beim Auftreten der Figuren ist eine inspirierte Entscheidung: So können wir Charlottes Verunsicherung im Beisein ihrer oft gleichgültig bis geradewegs abweisend agierenden Gastgeberin bestens nachvollziehen. Schnell stellen wir uns ähnliche Fragen wie sie: Wie würde Mary – trotz erster zarter Annäherungen bei den täglichen Ausflügen an den Strand – wohl reagieren, wenn Charlotte ihr ihre wahren Gefühle offenbart?

    Das Publikum ist gegenüber Charlotte zwar ein Stück voraus, weil wir Marys schlüssig porträtierte Beziehung zu ihrer selbstsüchtigen Mutter, die konstante Herabwürdigung ihrer wissenschaftlichen Leistungen durch das intellektuelle Patriarchat und ihre finanzielle Notsituation bereits aus den einführenden Passagen kennen. Aber selbst mit diesem Wissensvorsprung um die Gründe für ihre Verbitterung ist es zunächst nicht leicht, sie wirklich ins Herz zu schließen: Kate Winslet geht bei ihrer wortkargen Zeichnung nicht auf Nummer sicher, sondern lässt jede Menge Ambivalenzen und Schattierungen zu.

    Mary führt Charlotte in die Hohe Kunst der Fossilienpräparation ein.

    Umso befriedigender ist es dann, wenn sich Charlotte spontan entschließt, das Risiko einzugehen, ihrem Herzen zu folgen und Mary sie nicht zurückweist, sondern sie plötzlich voller angestauter Leidenschaft in die Arme schließt: Die erfrischend realistischen und vollkommen uneitlen Sexszenen funktionieren als eine Art Katharsis – sowohl für die Figuren als auch für uns außenstehende, jedoch längst stark involvierte Zuschauer*innen. Denn in diesen Momenten absoluter Nähe ist es für eine Zeit völlig egal, ob diese Beziehung - in Anbetracht des historischen Rahmens, des gesellschaftlichen Ständeunterschieds und Charlottes Ehe – letztlich überhaupt eine echte Chance hat oder nicht.

    Fazit: Saoirse Ronan und Kate Winslet begeistern in einem zu Beginn noch bewusst spröden, fast schon bedrückenden, letztlich aber emotional vollauf befriedigenden Liebesdrama, das zudem atmosphärisch wie visuell eine echte Wucht ist.

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