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    Family Romance, LLC
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Family Romance, LLC

    Tokio durch die Augen von Werner Herzog

    Von Carsten Baumgardt

    Der legendäre Filmemacher Werner Herzog pendelt seit jeher zwischen den Disziplinen Spielfilm („Fitzcarraldo“, „Aguirre, der Zorn Gottes“) und Dokumentarfilm („Grizzly Man“, „Begegnungen am Ende der Welt“). Das machen andere auch, aber bei kaum einem Zweiten verschwimmen die Grenzen zwischen der dokumentarischen und der fiktionalen Kunstform so konsequent wie bei Herzog: Während er seine Dokumentationen bevorzugt mit lyrischen Erzählungen eine zusätzliche, eher poetisch überhöhte als streng abbildende Ebene verleiht, dokumentiert er in seinen Spielfilmen auch gerne mal drauf los, wenn ihn etwas abseits des Plots, sei es ein Ort, ein Tier oder eine Institution, besonders interessiert.

    Das ist nun auch bei „Family Romance, LLC“, einem tragikomischen Drama über das japanische Phänomen der Verwandtenvermietung, das der mittlerweile 76-jährige Herzog in nur zehn Tagen und ohne Vorbereitung in Tokio auf Japanisch abgedreht hat, nicht anders. „Family Romance, LLC“ ist ein mit minimalem Aufwand produzierter Low-Fi-Film und zugleich ein echter Herzog. Auf der Handlungsebene begibt sich der Filmemacher auf die Suche nach dem Glück und der Antwort auf der Frage, ob es sich womöglich sogar künstlich erzeugen lässt. Zugleich fängt Herzog wie ein neugieriger Tourist mit einem feinen Gespür für die besonderen Eigenheiten aber auch all das ein, was ihm am Wegesrand so begegnet.

    (Fake-)Vater und Tochter unternehmen einen Ausflug in Tokio

    Ishii Yuichi (spielt sich selbst) führt die – auch real existierende – Agentur Family Romance, die Fake-Verwandte an seine Kunden ausleiht. So bekommt Ishii auch den Auftrag, den Vater der 12-jährigen Mahiro (Mahiro Tanimoto) zu mimen, der die Familie und seine Tochter schon vor zehn Jahren verlassen hat. Nachdem das Mädchen anfangs noch scheu ist, findet sie immer mehr Gefallen an den Treffen mit ihrem (falschen) Vater, den ihre reiche Mutter für sie engagiert hat. Unterdessen ertappt sich der routiniert-professionelle Ishii irgendwann dabei, dass er wirklich etwas Väterliches für Mahiro empfindet. Aber das verstößt gegen die Regeln, schließlich hat der Unternehmer und Chefdarsteller seiner Firma noch viele weitere Kunden. So vertritt er etwa einen Säufer bei der Hochzeit seiner Tochter oder sorgt mit einer gestellten Paparazzi-Meute dafür, dass sich eine Möchtegern-Influencerin wie ein Megastar fühlen kann…

    Schon die Entstehungsgeschichte passt einfach perfekt zur Legende „Werner Herzog“: Nachdem ihn der Debüt-Produzent Roc Morin mit der Finanzierung für dieses kleine, improvisierte Projekt überrumpelte, flog der in Los Angeles lebende Deutsche quasi direkt nach Japan und drehte dort in einer ihm fremden Sprache einen Film, von dessen Existenz vor der Cannes-Ankündigung nur einen Monat vor der Weltpremiere im Mai 2019 niemand auch nur etwas geahnt hat. Aus „fast nichts“, nämlich gerade einmal lächerlichen 300 Minuten gefilmtem Rohmaterial, schuf Herzog schließlich einen 89 Minuten langen Spielfilm – rekordverdächtig!

    Gedreht wurde an einigen bekannten Touristenpunkten in Tokio, wo der Regisseur nebenbei wie gewohnt seinen Blick schweifen lässt. Da nimmt er mal einen Samurai-Schaukampf im Ueno Park mit, fängt atmosphärisch wunderbare Bilder von Ruderbooten in der lampionerleuchteten Abendstimmung ein oder suhlt sich wie schon so viele Filmemacher vor ihm in der schon unverschämten Pracht der blühenden Kirschblüten – begleitet und aufgewertet durch den feinen Klassik-Score von Herzogs aktuellem Stammkomponisten Ernst Reijseger („Salt And Fire“, „Die Höhle der vergessenen Träume“). Die majestätischen Drohenaufnahmen, die den Film öffnen und eine gewisse Weite geben, stammen übrigens von seinem Sohn Simon Herzog.

    Wenig Budget, viel Herzog

    Natürlich ist die abenteuerliche Produktionsgeschichte und das niedrige Budget „Family Romance, LLC“ anzusehen, aber Herzog holt mit seinem unverwechselbaren Stil eine Menge heraus. Der Film fühlt sich wie eine fiktionalisierte Dokumentation an. Die Bilder hat der Filmemacher mit einer mobilen Videokamera selbst gedreht. Zwar setzt sich die Handlung aus Episoden von Ishii Yuichis Arbeit als Miet-Verwandter zusammen, aber das Grundgerüst und den emotionalen Kern bildet die Beziehung zwischen Ishii und Mahiro. Es hat etwas zutiefst Tragisches, wenn sich beide sympathisch sind und sich gerade deswegen irgendwann gegenseitig anlügen – der eine, weil es sein Job ist, die andere, weil sie ihren vermeintlichen Vater beeindrucken will.

    In den weiteren Episoden, die Ishii in Aktion zeigen, verfolgt Herzog eines seiner ewigen Themen weiter: Was bedeutet Glück? Wie setzt es sich zusammen? Ist es käuflich? Macht Geld womöglich doch glücklich? Dazu kommen immer wieder Gedanken zur künstlichen Intelligenz, die Herzog schon seit längerem fasziniert und die er in „Wovon träumt das Internet?“ zu ergründen begonnen hat. Nachdem er zuvor bereits ein nur von Robotern geführtes Hotel in Tokio besucht hat, zeigt der scheinbar perfekte, immer die richtigen Worte parat habende, zuverlässig wie ein programmierter Familienroboter arbeitende Ishii am Ende plötzlich doch noch eine verletzliche, eine menschliche Seite. Der reale japanische Unternehmer lässt sein makelloses Strahlemann-Image als TV- und Medien-Star hinter sich und wird tatsächlich zur fiktiven Herzog-Filmfigur Ishii Yuichi. Eine weitere Ebene im stetigen Fluss von Dokumentation und Fiktion.

    Fazit: „Family Romance, LLC“ ist eine Regie-Fingerübung, in der Werner Herzog auf faszinierende Weise einige der zentralen Fragen seines Oeuvres weiterverfolgt. Sehenswert, selbst wenn dem Ergebnis die Limitierungen der vergleichsweise bescheidenen Produktion durchaus anzumerken sind.

    Wir haben „Family Romance, LLC“ beim Filmfestival in Cannes gesehen, wo er als Special Screening gezeigt wurde.

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