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    Divertimento - Ein Orchester für alle
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Divertimento - Ein Orchester für alle

    Nach "Tár" wieder eine Dirigentin, aber diesmal nach einer wahren Geschichte

    Von Gaby Sikorski

    Sie sind ebenso berühmt wie berüchtigt und waren bereits häufig Schauplatz für Filme, die sich mit den dortigen sozialen Verwerfungen auseinandersetzen, so zum Beispiel in „Die Wütenden – Les Misérables“ von Ladj Ly oder dem Netflix-Echtzeit-Actioner „Athena“. Abgeleitet vom lateinischen Wort für „Bannmeile“ werden Vorstädte in Frankreich als „Banlieues“ bezeichnet – und inzwischen steht der Name synonym für die Pariser Außenbezirke, die sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr zu Problemvierteln entwickelten.

    Dort, wo die Hochhäuser besonders hoch, anonym und blässlich in den Himmel ragen, im Department Seine-Saint Denis, existiert aber auch eine große kulturelle Vielfalt mit vielen Aktivitäten und Initiativen. Dazu gehört etwa das Jugendorchester Divertimento, das unterprivilegierten Kindern und Jugendlichen aus den Banlieues den Kontakt zu klassischer Musik ermöglicht. Der Spielfilm „Divertimento – Ein Orchester für alle“ von Marie-Castille Mention-Schaar erzählt die Geschichte des Orchesters und seiner engagierten Gründerin – nach einer wahren Geschichte.

    Am Konservatorium wird der Berufswunsch von Zahia (in der Mitte: Oulaya Amamra) lange Zeit nicht ernstgenommen…

    Alles beginnt 1985, als die siebenjährige Zahia gemeinsam mit ihren Eltern im Wohnzimmer ein klassisches Konzert im Fernsehen sieht und vor allem hört: Sergiu Celibidache dirigiert den „Bolero“. Der berühmte Dirigent wird später in ihrem Leben noch eine wichtige Rolle spielen. Aber zunächst einmal hört Zahia plötzlich überall Musik – es ist, als sei sie besessen von Klängen: der Rhythmus des Straßenlärms, der Sound der Metro, für sie spielt die Großstadt ihre ganz eigene mal wilde, mal sanfte Melodie. Auch Zahias Zwillingsschwester Fettouma (Lina El Arabi) ist musikalisch – sie spielt Cello. Doch Zahia will mehr, sie hat einen ebenso außergewöhnlichen wie ehrgeizigen Berufswunsch: Sie möchte Dirigentin werden! Doch am Konservatorium wird Zahia (ab jetzt: Oulaya Amamra) von den Lehrkräften kaum als künftige Orchesterleiterin akzeptiert.

    Das liegt zum Teil an ihrer Schüchternheit, denn Zahia ist im Gegensatz zu ihrer Schwester eher scheu und zurückhaltend. Aber ein großer Teil ihrer Probleme hat auch etwas mit ihrer nordafrikanischen Herkunft und ihrem sozialen Background zu tun – die Familie lebt in Pantin, einer multikulturell geprägten Banlieue, während ihre Mitstudierenden der Oberschicht angehören. Zahia ist außerdem das einzige Mädchen, das dirigieren will. Durch Zufall macht sie die Bekanntschaft von Sergiu Celibidache (dem Original verblüffend ähnlich: Niels Arestrup), der inzwischen im Ruhestand ist und überhaupt nichts von weiblichen Dirigenten hält. Doch er erkennt ihr Talent, springt über seinen Schatten und wird zu ihrem Förderer. Aber die große Frage ist: Reicht das schon aus, damit sie sich im ständigen Kampf gegen Vorurteile und Intoleranz behaupten kann?

    Gegen alle Widerstände

    Eine interessante Problemstellung: Was nützt das ganze Talent, wenn begabte Kids wie Zahia so viel Energie darauf verwenden müssen, sich ständig zu rechtfertigen und gleich an mehreren Fronten zu bestehen? Zahia hat Glück – sie wird von ihren Eltern unterstützt und sie hat Fettouma an ihrer Seite, die prinzipiell genauso tickt wie sie. Doch ihre verständlichen Selbstzweifel machen sie verwundbar. Wie Zahia dann doch eine erfolgreiche Dirigentin wird und ihr Leben Kindern und Jugendlichen widmet, die so wie sie aus prekären Verhältnissen kommen, das ist das zentrale Thema von „Divertimento“, in dem es nicht nur um Musik, sondern auch um die Überwindung von Grenzen geht: Zahia muss lernen, sich zu behaupten, wenn sie ihren Traum Wirklichkeit werden lassen möchte. Doch sie muss auch für sich selbst herausfinden, was für sie das Beste ist. Und was macht eine begabte junge Dirigentin aus der Vorstadt, die chancenlos gegen die Männerwelt antritt? Sie gründet kurzerhand ihr eigenes Orchester.

    Marie-Castille Mention-Schaar hat u. a. schon mit „Die Schüler der Madame Anne“ (2014) als Regisseurin und Drehbuchautorin ihr Händchen für Jugendstoffe bewiesen. Für ihr neues Jugenddrama hält sie sich an das Leben der beiden Protagonistinnen Zahia und Fettouma Ziouani und erzählt ihre Geschichte als realistisches Märchen, wenig bis gar nicht als Musikfilm. Dennoch webt sie aus vielen klassischen Melodien wunderschöne Klangteppiche, die dem Film viel Atmosphäre geben. Daneben erweist sich „Divertimento“ als Geschichte zweier Schwestern, die sich gegenseitig nach Kräften unterstützen. Leider kommt Fettouma dabei als Persönlichkeit etwas zu kurz – Zahia bleibt stets im Vordergrund. Doch die beiden jungen Darstellerinnen spielen ihre Rollen sehr engagiert und liebenswert.

    Ihr Orchester leitet die reale Zahia übrigens bis heute mit großem Erfolg!

    Lina El Arabi als Fettouma macht das mit viel jugendlichem Charme und Schwung, während Oulaya Amamra die Zahia als scheue, stille Einzelgängerin spielt, die andere beobachtet, als seien sie Wesen von einem anderen Planeten. Damit sie erfolgreich dirigieren kann, muss sie sich öffnen und sich von den Zwängen und Beschränkungen befreien, die ihr andere auferlegen, ebenso wie von ihrer eigenen Unsicherheit. Mention-Schaar zeigt diesen Prozess mit Sensibilität und handwerklichem Geschick als nachvollziehbare und recht spannende Entwicklung. Dabei macht sie aus Zahia weder eine feministische Heldin noch eine unterprivilegierte Kämpferin, sondern sie lässt ihr eine sehr eigene, persönliche Integrität als ebenso begabte wie pragmatische und vernünftige junge Frau, die davon träumt, dass alle Menschen miteinander Musik machen können, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Gesellschaftsschicht ... und ihr Orchester leitet Zahia bis heute.

    Fazit: Ein kraftvolles Plädoyer fürs Miteinander (und miteinander Musizieren).

     

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