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    Dogville
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Dogville
    Von Carsten Baumgardt

    Der dänische Star-Regisseur Lars von Trier war noch nie für besondere Konventionalität bekannt. Mit seinem neuesten Werk, dem schwermütigen Schuld- und Sühne-Drama „Dogville", sprengt er jedoch die Grenzen des bisher Gesehenen. Sein gewagtes dreistündiges Martyrium ist auf das absolute Minimum reduziert, verzichtet auf Kulissen - alles spielt sich auf einer kargen Bühne ab. Und das Erstaunliche: es funktioniert. Die Wucht der Geschichte, die von den grandiosen Darstellern getragen wird, überrollt den Betrachter mit zunehmender Dauer, sodass sich niemand mehr entziehen kann.

    Dogville ist ein kleines, hermetisch von der Außenwelt abgeriegeltes Bergdorf in den Rocky Mountains. 1930, in Zeiten der Rezession, sucht die junge, mysteriöse Grace (Nicole Kidman) - von der Mafia und der Polizei gleichermaßen verfolgt - Zuflucht in Dogville. Die Dorfbewohner nehmen sie zunächst herzlich in ihrer Mitte auf, sind begeistert von Grace' Freundlichkeit und Charme. Da sie den Bewohnern unbedingt eine Gegenleistung bieten will, beginnt sie, für jeden einzelnen eine tägliche Gefälligkeit zu erledigen: Auf die Kinder aufpassen, im Haushalt oder Garten helfen oder einfach nur einem einsamen Blinden (Ben Gazzara) Gesellschaft leisten. Immer wieder taucht die Polizei in Dogville auf und sucht nach Grace. Das versetzt die einfach gestrickten Menschen in Aufregung. Sie stimmen darüber ab, ob Grace bleiben darf. Noch entscheiden sie sich für sie, aber bald schlägt die Stimmung um. Die Besuche der Polizei häufen sich und der Neid auf die bezaubernde Fremde wächst von Tag zu Tag. Nur der Möchtegern-Schriftsteller Tom Edison (Paul Bettany), der sich in sie verliebt hat, steht noch zu Grace. Als das Szenarium eskaliert und Grace zum ersten Mal vergewaltigt wird, ist er machtlos und wie gelähmt. Er sucht einen Weg, das Problem zu lösen...

    Lars von Trier, der mit „Breaking The Waves“ „Idioten“ und „Dancer In The Dark“ international seinen Durchbruch schaffte, geht mit dem schwermütig bühnenhaften Drama „Dogville“ in seiner Radikalität noch einen Schritt weiter – bis an die äußerste Grenze des Denkbaren sogar. Seine Betrachtung zum Thema Menschlichkeit und Güte siedelt der Däne im Stil eines Berthold Brecht an. Scheinbar die ganze Last des Universums bürdet er seinen 15 Hauptfiguren auf. Um keine Sekunde von der dreistündigen Geschichte abzulenken, verzichtet von Trier auf eine konventionelle Kinoinszenierung. Selbst für Verhältnisse des Theaters – denn nichts anderes als abgefilmtes Theater ist „Dogville“ – fällt die Ausstattung spartanisch aus. Alles spielt sich auf einer spärlich beleuchteten 50 Mal 50 Meter großen Bühne ab. Die Grundrisse der Häuser und Gebäude sind lediglich aufgemalt. Für plastische Trennung sorgen ein paar wenige Requisiten. Durch den allmächtigen und allwissenden Erzähler John Hurt erfährt der Zuschauer auch Details, die er allein von den Geschehnissen nicht nachvollziehen könnte. Die Handlung ist in neun Kapitel plus Pro- und Epilog aufgeteilt. Allein durch das Setzen des Lichts und Hinzufügen von Ton wird Atmosphäre erzeugt.

    So wahnwitzig sich diese Reduzierung auch anhört, so überzeugend ist das Ergebnis, das von Trier damit erzielt. Er wollte die Zuschauer mit dieser Geschichte fordern und sie am Ende zu einer Reaktion, zu einem Urteil förmlich zwingen. Und genau das gelingt ihm. Wenn sich die Story am Ende so drastisch wie überraschend dreht, muss der Betrachter entscheiden, ob er von Trier folgen will und kann. Eben diese hervorgerufenen Emotionen machen aus „Dogville“ einen außergewöhnlichen Film. Keine belanglose Mainstreamkost, sondern episches, großes Theater – und das eben im Kino. Neben den stilisierten Emotionen, die die Geschichte bis an die Grenzen des Erträglichen transportiert, funktioniert „Dogville“, weil die Darsteller so überzeugend ihre Aufgaben meistern. Hauptdarstellerin Nicole Kidman („The Others", „Moulin Rouge") spielt die bedauernswerte Grace mit einer derartigen Hingabe und Überzeugungskraft, dass es eine wahre Freude ist, ihr zuzusehen. Ergänzt wird ihre Performance durch starke Leistungen von Paul Bettany („A Beautiful Mind", „Ritter aus Leidenschaft"), der neben Kidman die vielschichtigste Rolle hat. Aber auch Lauren Bacall, Ben Gazzara, James Caan („Der Pate") und Chloe Sevigny sind sehenswert. Durch die kraftvolle Inszenierung wird der Film trotz der immensen Länge nie langweilig. Immer mehr zieht einen die Geschichte wie in einem Sog in den Bann.

    Den Vorwurf, über Amerika zu drehen und niemals in dem Land gewesen zu sein (wie bei „Dancer In The Dark“), muss sich von Trier diesmal nicht gefallen lassen. Zwar spielt „Dogville“ in einem Dorf in den Rocky Mountains, aber durch die stilisierte, reduzierte Inszenierung nimmt er seinen Kritikern jegliche Angriffsfläche. Der moralische Angriff auf die Dorfbewohner-Protagonisten ist keineswegs ein Schlüsselfilm über Amerika oder gar anti-amerikanisch, sondern eher universell zu verstehen.

    „Dogville“ ist übrigens der Auftakt einer Grace-Trilogie, der mit „Washington“ und „Manderlay“ die weiteren Teile folgen sollen. Oscarpreisträgerin Nicole Kidman („The Hours") wird wieder dabei sein. Ob seine radikale Ethik-Betrachtung weiterhin ähnliches Potenzial hat wie der erste Teil, wird sich zeigen. Künstlerisch triumphiert Lars von Trier mit „Dogville“. Ob sein Experiment an der Kinokasse einschlagen wird, ist dagegen fraglich. Die Zuschauer müssen sich auf jeden Fall auf den Film einlassen wollen, sonst macht der Kauf einer Eintrittskarte keinen Sinn. In einem kurzen Grußwort per Video an die Besucher des Hamburger Filmfests, wo der Film seine Deutschlandpremiere feierte, schloss von Trier mit den Worten: „Ich wünsche ihnen viel Glück beim Betrachten des Films.“ Dem ist nichts mehr hinzuzufügen...

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