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    Sinn und Sinnlichkeit
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Sinn und Sinnlichkeit
    Von Susanne Picard

    Jane Austens Bücher, zumindest die letzten sechs, sind in der englischen Literatur Klassiker. Gehört hat den Namen der britischen Autorin, die vor 200 Jahren lebte, schon jeder einmal – und viele (die meisten eigentlich!) finden sie langweilig. Auf den ersten Blick geht es in ihren Geschichten auch wirklich nur um das eine: es gibt ein paar Familien, meist auf dem Lande, meist bestehend aus Frauen, und die werden meist über kurz oder lang und mit wenigen wahrscheinlichen oder vielen unwahrscheinlichen Verwicklungen früher oder später verheiratet. Langweilig also? Kenner sehen das anders. Jane Austen war nicht nur eine der ersten Roman-Schriftstellerinnen der Neuzeit, sondern wahrscheinlich die erste ernstzunehmende und noch dazu eine gewiefte Erzählerin, die oft mit einer gehörigen Portion Ironie, mit Liebe und Detailfreudigkeit an ihre Romanfiguren heranging. Selbst die kleinen Nebenrollen ihrer Romane stattete sie mit Leben aus wie sonst kaum eine Schriftstellerin. Bis heute gibt es kaum jemanden, der ihre erzählerische Brillanz in kleinen Dingen in so hohem Maße erreicht hätte.

    Und so geht es auch in diesem oft unterschätztesten ihrer sechs Werke, „Verstand und Gefühl“ (Filmtitel: „Sinn und Sinnlichkeit“), um nichts weiter als das mehr oder weniger turbulente (Liebes-)leben zweier Schwestern. Elinor (Emma Thompson) und Marianne (Kate Winslet) sind Schwestern. Ihr Vater John Dashwood (James Fleet) ist kürzlich gestorben und hat seinen gesamten Besitz seinem Sohn aus erster Ehe vermacht, was die beiden, das Nesthäkchen Margaret (Emilie Francois) und ihre Mutter Mrs. Dashwood (Gemma Jones) nahezu mittellos zurücklässt. Für Frauen zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine angenehme Lage, war man doch aus gesellschaftlichen Gründen in derartigen Situationen auf Hilfe angewiesen. Ein Beruf war nicht schicklich. Die Unterstützung naht für die Dashwood-Frauen in Gestalt eines Cousins von Mrs. Dashwood, Sir John Middleton (Robert Hardy), der seinen verarmten Verwandten ein kleines Cottage auf seinem Grund und Boden zum Wohnen überlässt. Elinor und Marianne machen es sich dort also mit Mutter und Schwester so bequem, wie es eben von dem mageren Erbe geht. Schon bald tauchen diverse Verehrer am Horizont auf: Da ist der schneidige Willoughby (Greg Wise), in den sich die impulsive und schwärmerische Marianne schon bald verliebt, Colonel Brandon (Alan Rickman), der sich seinerseits in Marianne verliebt und Elinors seltsam zurückhaltender Verehrer Edward Ferrars (Hugh Grant), den sie noch auf dem Gut ihres Vaters kennengelernt hat...

    Ein turbulenter Liebesreigen im hübschen Empirestil also? Fans der heute so üblichen Actionspektakel würden das sicher sagen. Doch damit entgeht ihnen ein Genuss, der sowohl dem Buch als auch dem Film zu eigen ist und wofür Drehbuchautorin Emma Thompson zu Recht der Oscar verliehen wurde: die kleinen ironisch-witzigen Eigenheiten, die die Personen in beiden Fällen so auszeichnet und von der die Handlung besonders im Film lebt. Der für dieses Projekt äußerst ungewöhnlich ausgesuchte taiwanesische Regisseur Ang Lee hatte vor seiner Zusage zu diesem Projekt keinen englischsprachigen Film über ein westeuropäisches Thema gedreht. Ein gewagtes Experiment schien das also für die Beobachter zu sein. Die meisten – auch Produzentin Lindsay Doran, genau so ein Jane-Austen-Fan wie Emma Thompson – dachten das, doch der Chinese erkannte schon bald die Eigenheiten und die Parallelen zu seinen eigenen Filmen. Die liegen in liebevollen Personenstudien, deren Charakterzeichnung die Handlung vorantreibt und das sehr chinesische Urthema von Yin und Yang. Zwei Seiten einer Medaille, die hier vor allem in den Beziehungen der Figuren untereinander existieren: Vernunft bei der gelassenen Elinor, Gefühl bei der romantischen Marianne; die kaltherzig-raffgierige Schwägerin Fanny Dashwood und die naiv-liebenswürdige Mrs. Dashwood, die beinahe lästige, aber ehrliche Herzlichkeit von Mrs. Jennings und die ebenso freundliche Durchtriebenheit von Lucy Steele; die vornehme Zurückhaltung von Colonel Brandon und die überschäumende Attraktivität von Willoughby.

    Bis in die kleinste Rolle sind die Schauspieler perfekt besetzt, Robert Hardy als Sir John, Gemma Jones als Mrs. Dashwood, die wie ein Regency-Gemälde wirkende Kate Winslet als Marianne, selbst Hugh Grant macht als etwas tolpatschiger Edward Ferrars eine bessere Figur, als jeder eingefleischte Austen-Fan wahrhaben möchte. Auch Emma Thompson ist zwar um Jahre zu alt, um eine 19-Jährige zu spielen, allerdings macht das nicht wirklich etwas aus, denn so englisch wie Emma Thompson nun einmal ist, kann man sich die vernünftige und wohlerzogene Elinor Dashwood wirklich vorstellen. Von Alan Rickman als Colonel muss man gar nicht erst anfangen – sein Brandon ist der vollendete englische Gentleman und verleiht dem etwas steifen Buch-Brandon auf wundervolle Weise Leben.

    Gerade unter Jane-Austen-Fans gab und gibt es immer wieder Vorbehalte, eigentlich sei der Film ja viel zu romantisch und heiter inszeniert und was die englische Pfarrerstochter damals geschrieben hat, sei einfach nicht genügend ernst genommen. Immerhin steckt in der verzweifelten Lage der Dashwood-Frauen jede Menge Sozialkritik. Zum Lachen war eine derartige Lage für Frauen um die vorletzte Jahrhundertwende wirklich nicht. Übrigens ein Vorwurf, den heutige Zeitgenossen umgekehrt Jane Austen selbst häufiger machen. Ein ungerechtfertigter Vorwurf hier wie da, denn Emma Thompson macht dasselbe wie Jane Austen: Sie versteckt diese gesellschaftskritischen Ansätze und macht die Handlung zu einer Studie, ohne zu urteilen.

    Schon Jane Austen wollte nichts anprangern, sondern lediglich beschreiben. Das tut Emma Thompson auch, ihre Fanny Dashwood ist keinen Deut liebenswürdiger oder weniger geizig; die Schwestern sind nicht weniger arm (jede besitzt ganz offensichtlich nur drei oder vier Kleider, je zwei davon sogar ziemlich abgetragen, und das in einer Zeit, in der es üblich war, dass sich Damen der Gesellschaft vier-bis fünf Mal pro Tag umzogen); der Bruder ist nicht weniger charakterlos; Barton Cottage ist im Gegensatz zu dem prächtigen, mit einer unübersehbaren Schar Bediensteter ausgestatteten Norland Park bitter ärmlich eingerichtet und immer wieder muss Elinor ihre verschwenderische Mutter auf das mangelnde Geld hinweisen („Mama, das ist zu teuer, wir haben doch nur 500 Pfund im Jahr!“). Die Gesellschaftsunterschiede können auch heutzutage dem aufmerksamen Zuschauer nicht entgehen, auch nicht, wie sehr das Glück der Schwestern vom Wohlwollen ihrer Umgebung abhängt und damit, wie wichtig es ist, sich dieses Wohlwollen auf jede nur erdenkliche Weise zu sichern.

    So zieht Emma Thompson das gleiche Fazit, das auch Jane Austen zieht: Beide Schwestern bekommen am Schluss das einzige, was einer Frau vor 200 Jahren Unabhängigkeit vom Elternhaus oder ein wenig Sicherheit geben konnte: eine Ehe. Und dazu kriegen sie noch den unerhörten Luxus, dass sie ihren Ehemann lieben dürfen. Und so fiebert man in den letzten Minuten des Films mit Mrs. Dashwood, Marianne und besonders Margaret mit, als Edward endlich seine Elinor um ihre Hand bitten kann und Colonel Brandon Marianne heiraten darf. So als wäre man selbst im Regency England beheimatet – und hätte nichts anderes zu seinem Glück zu tun, als zu heiraten.

    Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.

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