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    Bob Dylan - No Direction Home
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Bob Dylan - No Direction Home
    Von Matthias Reichel

    „Judas!”, hallt es aus dem Publikum in Richtung Bühne. Doch der kleine Mann am Mikrophon lässt sich nicht beirren. Er dreht sich um zu seiner Band und fordert sie auf, „verdammt noch mal lauter zu spielen!“

    Dies ist eine der Schlüsselszenen in der Karriere des Robert Zimmermann alias Bob Dylan und eines der vielen Highlights in der US-TV-Dokumentation „No Direction Home“ über eine DER amerikanischen Musiklegenden schlechthin. Zugetragen hat sie sich auf Dylans England-Tournee im Jahr 1966, als ein aufgebrachter Konzertbesucher am 17. Mai in der Albert Hall zu Manchester seinen Unwillen über die Metamorphose des Songschreibers, weg vom braven Folkmusiker mit Akustikklampfe, hin zum Rocker mit E-Gitarre, zum Ausdruck brachte.

    Die vorliegende 3½-Stunden-Dokumentation über einen Musiker, über den angeblich alles gesagt schien, wurde von keinem Geringeren als Martin Scorsese (u. a. Regisseur des Konzertfilms „The Last Waltz“ von The Band und an den Woodstock-Filmen beteiligt) betreut, der aus hunderten Stunden Filmmaterial eine mehr oder weniger kompakte Doku montieren musste. Angeliefert hat das Material größtenteils Dylan-Manager und Archivar Jeff Rosen, der seit 1995 an dem Projekt arbeitet und dazu nicht nur Kollegen und Musikerfreunde wie Allen Ginsberg, Dave van Ronk, Pete Seeger, Suze Rotolo und Joan Baez interviewte, sondern auch „His Bobness“ für knapp zehn Stunden (!) zu Wort kommen ließ. Allein dies ist ziemlich sensationell, gilt Bob Dylan doch als äußerst pressescheu und mundfaul.

    Scorsese stieß 2001 zum Team von „No Direction Home“ hinzu, um quasi aus neutraler Sicht eine chronologische Abfolge der ersten Karrierejahre des kauzigen Songschreibers zusammenzustellen. Aus diversen Konzertmitschnitten, Fernsehberichten, Auftritten in TV-Shows und Interviews, folgt Scorsese dabei dem Vorbild der Dylan-Autobiografie „Chronicles: Volume One“ aus dem Jahr 2004, indem er den Künstler zwar aus verschiedensten Ecken beleuchtet, aber kaum in das Privatleben des Porträtierten eindringt. Frauengeschichten, die krummen Machenschaften des Ex-Managers Albert Grossman, seine kinderreiche Ehe und der erhebliche Drogenkonsum werden höflich ausgespart. Kritische Untertöne scheinen bei den Machern offenbar unangebracht gewesen zu sein.

    Selbstverständlich funktioniert der Film auch ohne diesen Klatsch und Tratsch. Zum Beispiel durch das hochinteressante Bonusmaterial, das den bereits Ende August erschienenen Soundtrack zu „No Direction Home“ sogar noch toppen kann. Als siebter Teil der „Bootleg Series“ wucherte schon das Doppelalbum mit chronologisch sortierten Raritäten in Hülle und Fülle, denen die Doppel-DVD nochmals sieben nie zuvor gesehene Performances hinzufügt. Da wären zum einen drei TV-Live-Tracks aus der Zeit zwischen März 1963 bis März 1964 („Blowin´ in the wind“, „Girl of the north country“ und „Man of constant sorrow“), dann das krachende „Mr. tambourine man“ vom Newport Folk Festival 1964 und drei rohe Aufnahmen aus England, nämlich „Like a rolling stone“ (Newcastle, 1966), „One too many mornings” (Liverpool, 1966) und „Love minus zero/No limit” (London, 1965).

    Für viele Dylan-Fans ist die Phase zwischen 1961 und 1966 die interessanteste in der Biographie des Singer/Songwriters aus Hibbing, Minnesota. In dieser Zeit entwuchs der 20-jährige, pausbäckige Musiker der Folkszene im New Yorker Greenwich Village – seiner musikalischen Heimat – zu einem politisch engagierten Liedermacher, der als Stimme der Bürgerrechtsbewegung galt, bis hin zum wilden Rockstar, der seine ungewollte Messias-Rolle leid war und durch exzessives Touren bzw. übertriebenen Amphetamingebrauch deutlich erschlankt auf schier endlose Konzertreisen ging. Der Höhepunkt dieser Phase wird mit der sensationellen Wiederentdeckung des 1966er England-Tourfilms „Eat The Dokument“ von D.A. Pennebaker belegt, den Scorsese meisterhaft in das Filmmaterial eingearbeitet hat. Der Zuseher erlebt hautnah mit, wie Dylan auf der Bühne ausgebuht wird, weil er mit Begleitband und elektrisch verstärkten Instrumenten auftritt und sich zu einer Art Popstar wandelt. Danach war nichts mehr wie es war, behaupten die beinharten Dylan-Anhänger.

    Auch wenn „No Direction Home“ lediglich in englischsprachiger Originalfassung mit Untertiteln existiert (immerhin in Dolby Digital 5.1 Sound), kann die Doppel-DVD mit ihren zahlreichen Anekdoten, Konzertmitschnitten und musikalischen Raritäten gewiss auch akribische Dylan-Fans überzeugen, die im Grunde schon alles von ihrem Idol wissen, aber noch nie auf so eine genial komprimierte Weise in den Genuss eines Porträts von Herrn Zimmermann gekommen sind.

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