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    Rolltreppe abwärts
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Rolltreppe abwärts
    Von Christoph Petersen

    Normalerweise werden kleine Filme für den deutschen Kinomarkt auf Festivals oder Filmmessen entdeckt. „Rolltreppe abwärts“ ist eine Ausnahme, seinen bundesweiten Kinostart verdankt er seinem eigenen Publikum. Der Film, der auf der gleichnamigen, millionenfach verkauften Schullektüre von Hans-Georg Noack basiert, wurde von einer Gruppe Schüler realisiert, die ihn mit Hilfe ihrer eigenen Produktionsfirma „SceneMissing“ in die Bonner Kinos brachten. Hier entwickelte sich „Rolltreppe abwärts“ mit über 10.000 Besuchern zu einem echten Überraschungshit und fand mit Zorro Film einen professionellen Verleih.

    Die Erfolgsstory begann mit einer Produktion von „Crazy“ am Jungen Theater Bonn, als sich Regisseur Dustin Loose (19), Produzent Christopher Zwickler (21) und andere junge Leute zusammentaten, um ihre filmischen Visionen gemeinsam umzusetzen. Nach einem Kurzfilm und einem Musikvideo beschlossen sie, sich an die Königskategorie, einen Langfilm, zu wagen. Die Wahl des Stoffes viel einstimmig auf Noacks Jugendroman, den Loose zufällig in seinem Bücherregal wieder entdeckt hatte. Das Problem war nur, dass Noack in den vergangenen Jahren wiederholt Offerten selbst namhafter Produzenten widerstanden hatte, „Rolltreppe abwärts“ für die Leinwand umzusetzen. Aber einer solch motivierten Horde Schüler, die sein Roman in ihrem Alter noch selbst betrifft, konnte er einfach nicht absagen. Und so begannen Ende Dezember 2004 nach fünf Drehbuchfassungen, ausgiebigen Castings und einer schwierigen Finanzierung endlich die 11-tägigen Dreharbeiten.

    Der 13-jährige Jochen (Timo Rüggeberg) hat Stress mit seiner berufstätigen Mutter (Diana-Maria Breuer) und ihrem neuen Lebensgefährten Albert (Guido Renner). Er ist oft allein und als er eines Tages seinen Schlüssel vergisst, kommt er nach der Schule nicht in die Wohnung. Um sich die Zeit totzuschlagen, zieht er los in die Stadt. Schon bald knurrt ihm der Magen, aber im Portemonnaie herrscht gähnende Leere. In einem Kaufhaus will er zwei Schokoriegel und eine Cola klauen, doch sein Mitschüler Alex (Justus Kötting) erwischt ihn dabei. Überraschenderweise verpfeift Alex Jochen nicht, lädt ihn stattdessen sogar auf Bier, Zigaretten und Currywurst ein. Fortan treffen die beiden sich öfter und Alex klaut jedes Mal was sie so gerade brauchen. Irgendwann ist aber auch Jochen an der Reihe, zunächst klappt es ganz gut, aber beim Klauen eines MP3-Players wird er erwischt. Die „Rolltreppe abwärts“ gewinnt an Fahrt, ein paar Diebstähle und sogar schwere Körperverletzung später, schickt Jochens hilflose, überforderte Mutter ihn in ein Fürsorgeheim für schwer erziehbare Jungs.

    Im Heim muss sich Jochen erstmal an die ungewohnten Strukturen gewöhnen. Der strenge Erzieher Hamel (Jürgen Haug) spricht die Kinder mit Hundenamen an, Jochen nennt er nach dem Poster an seinem Schrank „Boxer“, und vertritt auch sonst die Auffassung, dass man die Jungen zunächst brechen muss, um einigermaßen mit ihnen klar zu kommen. Auch der Umgang der Jugendlichen untereinander bietet keinen Halt. Zwar wird solidarisch gegen die Erzieher zusammengehalten, Freundschaften sind aber sehr zerbrechlich, weil jeder vor allem auf seinen eigenen Vorteil aus ist. Einziger Lichtblick für Jochen ist das gute Verhältnis zur mütterlichen Krankenschwester Maria (Giselheid Hönsch), die ihm sogar eine Lehrstelle im Laden ihres Bruders besorgt. Als Jochen aber für den Diebstahl eines Hundebabys, an dem er auch tatsächlich eine Teilschuld trägt, verantwortlich gemacht wird, verliert er auch diese letzte Chance. Die Rolltreppe ist schon fast ganz unten angekommen und sie hört nicht auf, Jochen noch tiefer zu tragen…

    Der Eindruck, dass „Rolltreppe abwärts“ nur besseres Schultheater ist, hält sich beim Zuschauer maximal fünf Minuten. Zu stark ist der Sog, der von Jochens Schicksal ausgeht. Zu stark ist Timo Rüggeberg, der Jochen glaubhaft als angsterfüllten, tief verletzten Rebellen gibt und so fast schon auf den Spuren eines James Dean in „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ wandelt. Zu stark ist auch Dustin Looses Inszenierung, die mit kleinen Mitteln die meisten Hochschulabschlussfilme übertrifft. Zu stark aber vor allem die Geschichte, die in nur 79 Minuten eine Vielzahl von Figuren vielschichtig, aber niemals beliebig porträtiert. Niemand wird nur als Opfer oder nur als Schuldiger hingestellt. Alle versuchen, mit der Situation klarzukommen, alle scheitern daran. Jochens Mutter möchte eine gute Mutter sein, aber zu einfach ist es für sie, den Jungen ins Heim zu geben, zu einfach zu sagen, das wäre das Beste für ihn. Heimleiter Hamel hat zu Beginn seiner Karriere versucht, jedem einzelnen persönlich zu helfen, aber er wurde zu oft enttäuscht, als dass er noch weitere Rückschläge ertragen könnte. Jochen möchte natürlich wieder nach Hause, sein Leben wieder auf die Reihe kriegen, aber er hat zuviel Wut auf sich und den Rest der Welt, als dass er helfende Hände einfach so greifen könnte.

    Scheitern die meisten Debüts in Deutschland daran, dass Themen gewählt werden, von denen die jungen Regisseure noch überhaupt keine Ahnung haben können, sind die Schüler hinter der Kamera bei „Rolltreppe abwärts“ voll in ihrem Element. Das Ergebnis ist ein von Authentizität und Einfühlungsvermögen strotzender Film, dem man selten das Alter der Macher ansieht. Nur verfällt Loose zu oft formalen Spielereien, seien es ungewohnte Schnitte oder übermütige Perspektiven, die den Zuschauer immer wieder aus dem Film reißen. Hätte er seinen strengen Inszenierungsstil genauso konsequent durchgezogen wie Jochens Abstieg, wäre ihm der ganz große Wurf gelungen. So bleiben aber immer noch ein bewundernswertes Projekt und ein wirklich sehenswerter Film. Alle Achtung.

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