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    Der Stadtneurotiker
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Der Stadtneurotiker
    Von Ulrich Behrens

    „Kennen Sie den schon? Zwei uralte

    Damen sitzen in einem Hotel mit

    Vollpension. Sagt die eine zur

    anderen: ‚Wissen Sie, ich finde das

    Essen hier einfach katastrophal.’ Sagt

    die andere: ‚Ja, stimmt, und diese

    winzigen Portionen.’– Und wenn Sie

    mich fragen: So sehe ich im

    wesentlichen das Leben.”

    Winzige Portionen, katastrophal. Bereits als Neunjähriger (Jonathan Munk) sah Alvy Singer (Woody Allen) die Katastrophe auf sich zusteuern: Das Universum expandiere, und alles würde sich auflösen. Für seine Mutter (Joan Neuman) ausreichend Anlass, mit Alvy zum Arzt zu gehen. Und schließlich gab Alvy die U-Bahn bereits in seiner Jugend den Rest, wenn die Wohnung und Alvy bei jedem Vorbeifahren erzitterten. So wurde Alvy vom Leben geprägt – nervös und von winzigen Portionen nicht gerade verwöhnt. Das Leben bestehe entweder in Krankheit oder in Leid, sagt er einmal zu Annie (Diane Keaton). Da sei es ein Glück, lieber unglücklich zu sein als krank.

    „Der Stadtneurotiker”, ausgezeichnet mit vier Oscars, verschaffte Allen den endgültigen Durchbruch im Filmgeschäft, und das zu Recht. Kaum ein anderer als Allen konnte die Neurosen, den merkwürdigen Egoismus und die speziellen Eigenheiten der New Yorker Mittelklasse derart sarkastisch in Szene setzen wie er – und das alles auch immer mit einem satirischen Blick auf seine jüdischen Landsleute. Kein anderer war besser geeignet, die neurotische Hauptfigur solcher Filme derart überzeugend zu spielen als Allen selbst.

    Allen spielt einen arrivierten Komiker, aber der Unterschied zwischen seiner Rolle auf der Bühne und der in seinem Leben fällt kaum auf. Zum weiblichen Geschlecht fühlt sich Alvy Singer von Kindheit an hingezogen. Aber diese Hingezogenheit ist von Anfang an mit der Unfähigkeit gepaart, sein Gegenüber wirklich zu verstehen. Alvy geht seit 15 Jahren regelmäßig zum Therapeuten, hat mehrere Beziehungen hinter sich, u.a. mit der ebenso neurotischen Allison (Carol Kane) und der nicht minder schrägen Pam (Shelley Duvall), als er beim Tennis die attraktive Annie Hall kennenlernt. Schon hier am Anfang dieser Beziehung wird deutlich, mit wie viel verbalem „Kampf” die Beteiligten ihre Neurosen ausfechten: Ob sie auch in die Stadt wolle. Ja, sie wolle auch in die Stadt. Er könne sie ja mitnehmen. Er habe aber kein Auto. Wie wolle er sie dann mitnehmen. Sie könne ihn ja mitnehmen. Sie habe also ein Auto, warum sie das nicht gleich gesagt habe. Und so weiter. Die Kompliziertheit, dieses erstaunlich Indirekte der Kommunikation, man könnte auch sagen: Aneinander-Vorbeireden, zwischen den beiden fußt natürlich auch darauf, dass Annie ebenfalls in erster Linie mit ihren Neurosen beschäftigt ist: eine Beziehung als überdimensionale Therapiesitzung.

    „Der Stadtneurotiker” ist als solche Therapiesitzung aus dem Blick Alvys inszeniert – mit Rückblenden in seine und Annies Kindheit, auf vergangene Beziehungen und auf die Phantastereien, mit denen Alvy allen wirklichen Problemen, die er hat, aus dem Weg zu gehen versucht.

    Man verliebt sich ineinander. Man schläft miteinander. Es war gut. Ja, es war gut. Aber was war eigentlich gut? Annie benötigt vor jedem Sex Gras. Alvy braucht es z.B. verrucht (er lässt das Schlafzimmer im Rotlicht erglühen). Annie will ihre Wohnung aufgeben und zu Alvy ziehen. Alvy listet alle erdenklichen „Argumente” auf, damit sie ihre Wohnung behält. „Lass uns zusammen bleiben für immer und ewig”, sagt sie. „Für solche Albernheiten sind wir zu erwachsen”, antwortet er.

    Alvy will sich binden und er will es nicht. Er will Annie für sich allein und er will allein sein. Er will Nähe und er will Distanz – gleichzeitig. Er will nicht mit Annie zusammenziehen, aber ist eifersüchtig bezüglich jedes Kontakts Annies zu anderen Männern. Man redet miteinander, aber dieses Reden ist nicht wirklich ein Gespräch. Man quasselt. Man zerredet. Man lässt sich beeinflussen, vor allem vom jeweiligen Therapeuten. Kaum ein anderer Film von Allen zeigt krasser, wie eine Beziehung im buchstäblichen Sinn „zerredet” wird.

    „Kennen Sie den auch? ‚Ich möchte

    nie einem Club angehören, der Leute

    wie mich als Mitglied aufnimmt.’– Und

    das ist genau die Einstellung, die ich

    Frauen gegenüber habe, seit ich erwachsen bin.”

    Alvy duscht nach dem Tennis nicht. Er will seinen Körper anderen Männern nicht zeigen. Er vermutet hinter harmlosen Äußerungen Antisemitismus, etwa wenn er von irgend jemand die Antwort erhält: „Es ist jud” (statt gut). Er verlebt mit Annie eine schöne Zeit, doch schon bald klappt es zwischen den beiden im Bett nicht mehr. Nur im Bett? Annie, die ab und an auf der Bühne singt, lernt den Musiker Tony (Paul Simon) kennen, der sie nach L.A. lockt, um dort Aufnahmen zu machen. Sie trennt sich von Alvy, er trennt sich von ihr. Er hält es nicht aus, fährt nach L.A. – aber es ist aus zwischen den beiden. Als sie sich später in New York wiedertreffen – Annie hat L.A. und Tony wieder verlassen – bleiben sie das, was man „gute Freunde” zu nennen pflegt.

    „Da musste ich an den alten Witz

    denken, den vom Mann, der zum

    Psychiater kommt und dann sagt:

    ‚Doktor, mein Bruder ist verrückt,

    er denkt, er ist ein Huhn.’ Und der

    Doktor sagt: ‚Warum bringen Sie ihn

    nicht ins Irrenhaus?’ Und der

    Mann sagt: ‚Das würde ich ja gerne,

    aber ich brauche die Eier.’– Tja, ganz

    ähnlich ist es auch mit menschlichen

    Beziehungen, hab’ ich das Gefühl.

    Sie sind oft so irrational, so verrückt

    und absurd, aber trotzdem machen

    wir das mit, weil, tja weil die meisten

    von uns die Eier brauchen.”

    Allen dreht diese Geschichte mit dem von ihm gewohnten Witz und Sarkasmus. Und er ist sich nicht zu schade dafür, auch über sich selbst zu lachen. Als er mit anderen und Annie zusammensitzt und alle koksen, meint er: „Warum soll ich mir dieses weiße Zeug in die Nase stecken. Man hat ja schließlich eine Verantwortung gegenüber seinen Schleimhäuten.” Auch Wortspielereien, die aber durchaus einen tieferen Sinn haben, tragen entscheidend zur Komik dieses Films bei. Als Annie von einem Mann erzählt, der einen Lehrstuhl habe und jetzt noch einen anderen, bemerkt Alvy: „Das reicht ja fast für eine Sitzecke.” Der Erfolg anderer treibt Alvy in den Zynismus.

    Alvy ist das typische Beispiel für einen Mann, der versucht, seinem Gefühl von Minderwertigkeit zu entgehen, indem er in der Phantasie ein Überlegenheitsgefühl entwickelt, um seinen wirklichen Problemen und einer wirklichen, intensiven Beziehung zu anderen zu entkommen. Wenn Allen am Schluss den Witz mit dem Huhn und den Eiern erzählt, so charakterisiert dies trefflich Alvys Gefühlswelt. Es sind die eingebildeten Eier eines eingebildeten Huhns, die „reinen”, „unproblematischen”, phantasierten Eier, die ihm abseits seiner Probleme die Vorstellung von Überlegenheit erlauben, ohne seine Probleme bewältigen zu müssen. Aus seinem Minderwertigkeitsgefühl seinem Körper gegenüber zaubert Alvy ein Gefühl der Überlegenheit: Seinen wunderbaren Körper zeigt er doch anderen Männern nicht. And so on.

    Sein neurotisches Empfinden hat geradezu revoltierenden Charakter, etwa wenn Alvy mit Annie in der Kinoschlange steht und sich über einen Mann schräg hinter sich aufregt, der seiner Begleiterin unter Verweis auf Marshall McLuhan Vorträge über die Bedeutung von Filmen hält. Annie hört gar nicht hin, ist genervt durch Alvys verbale Proteste. Aber Alvy wird das zu viel – und er phantasiert den Medientheoretiker und Literaturwissenschaftler Marshall McLuhan höchst persönlich herbei, der ihm und dem Mann bescheinigt, dass letzterer keine Ahnung von McLuhans Philosophie habe. Ein sehr typischer Fall für Alvys Neurosen.

    Die Beziehungsunfähigkeit sowohl Alvys, als auch Annies rührt, könnte man sagen, daher, dass beide nie gelernt haben, bei sich selbst zu sein. Sie sind permanent damit beschäftigt, Abwehrmechanismen zu entwickeln. Sie sagen kaum einmal, was sie wirklich empfinden; sie reden um den heißen Brei herum. Sie lassen den anderen nie wirklich an sich heran. Vor allem Alvy steht permanent neben sich selbst, stets in Verteidigungshaltung, in Frontstellung zu anderen, die potentiell das eigene Ich berühren oder verletzen könnten.

    Als Alvy und sein Freund Rob (Tony Roberts) in L.A. auf einer Party Tonys ankommen, hagelt es zynische Bemerkungen: Das Anwesen ist geräumig, und Rob bemerkt, er habe eine Landkarte dabei, damit man das Klo finden könne. Neid. Als man Tonys Frau in weißem Kleid bemerkt, äußert Rob so etwas wie: Was für eine SSL! SSL, erklärt er, bedeute Sichtbare Slip-Linie.

    Die Arroganz dieser neurotischen Städter aber demonstriert Allen nicht mit unterschwelliger Boshaftigkeit – in keiner Weise. Es ist eher jener sympathisierende Sarkasmus, ein gewisses Mitgefühl für seine Mitmenschen, die so viele Allen-Filme auszeichnet: unbarmherzig in der Offenlegung, aber immer mit einer guten Portion Komik gepaart, die das alles nicht nur erträglich macht, sondern eben auch höchst amüsant und ohne jene moralische Besserwisserei auskommt, die andere Filme zu einem grauenhaften Erlebnis werden lassen.

    Es bleibt die spannende Frage, ob Alvy und Annie sich eigentlich geliebt haben. Das möge sich jeder selbst beantworten.

    Keine Frage. Der „Stadtneurotiker” ist, selbstverständlich auch wegen der grandiosen Darstellung der Annie durch Diane Keaton, auch heute noch ein äußerst sehenswerter Film.

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