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    Tödliche Versprechen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Tödliche Versprechen
    Von Carsten Baumgardt

    David Cronenberg gehört schon seit seinen Anfängen als Horror-Regisseur zu den innovativsten Filmemachern Nordamerikas. Eines sind seine Werke nie: Mainstream. Dieses für intellektuelle Schaffende so verhasste Brandmal musste sich der Kanadier tatsächlich noch nie verpassen lassen. Vollbrachte Cronenberg Jahrzehnte seiner Kunst zumeist in Nischen mit einem kleinen aber feinen Publikum, das seine Werke goutierte, hat er sich nach Die Fliege (1986) spätestens mit seinem vielbeachteten A History Of Violence (2005) in Sachen öffentliche Aufmerksamkeit eine Liga höher gespielt. Mit „Tödliche Versprechen“ ist der Regisseur nun auf der Höhe seines Werkens angekommen. Die schwermütige Crime-Ballade ist ein atmosphärisches Meisterstück.

    Blutüberströmt bricht die schwangere Tatiana (Sarah-Jeanne Labrosse) in London zusammen und wird in ein Krankenhaus gebracht. Die 14-jährige Prostituierte ist übersät mit Nadeleinstichen und körperlich am Ende. Ihr Baby können die Ärzte noch mit letzter Kraft retten, für Tatiana hingegen kommt jede Hilfe zu spät. Krankenschwester Anna Khitrova (Naomi Watts) nimmt das in russisch verfasste Tagebuch der Toten an sich, um dort nach einer Kontaktadresse zu forschen. Doch obwohl sie in zweiter Generation russisch-stämmig ist, spricht sie diese Sprache nicht. Ihr kauziger Onkel Stepan (Jerzy Skolimowski) ist zunächst zu faul, die Seiten zu übersetzen, ihre Mutter Helen (Sinhead Cusack) kann auch nicht helfen. In dem Buch findet Anna die Adresse eines russischen Restaurants, an das sie sich wendet. Der Patriarch Semyon (Armin Mueller-Stahl) nimmt sich Anna väterlich an. In welche Kreise sie geraten ist, ahnt sie aber noch nicht. Semyon ist einer der großen Köpfe der Londoner Vory V Zakone, der Russenmafia. Für das operative Geschäft ist sein impulsiver Sohn Kirill (Vincent Cassel) zuständig, beschützt und protegiert von dem unterkühlten Nikolai (Viggo Mortensen), dem Chauffeur und Problembeseitiger der Familie. Bei der Übersetzung des Tagebuchs, die Onkel Stepan nun doch angegangen ist, stellt sich heraus, dass Tatiana als Prostituierte für Semyons Ring arbeitete. Das ist allerdings nicht das einzige dunkle Geheimnis, das sich in dem brisanten Schriftstück verbirgt. Anna und ihrer Familie dämmert nun schnell, dass sie sich in akuter Lebensgefahr befinden...

    Von der üblichen 08/15-Standard-Dramaturgie hält David Cronenberg (Videodrome, Spider, Rabid, „Existenz“) wenig. Obwohl „Tödliche Versprechen“ ein heißer Anwärter für die großen Awards des Jahres ist, versagt Drehbuchautor Steven Knight („Dirty Pretty Things“, „Amazing Grace“) seiner Zuschauerschaft konsequent eine konventionelle Storyline. Hier geht es ganz offensichtlich um andere Werte, bei denen Cronenberg einfach meisterlich arbeitet. Er ist nicht sonderlich an der Konstruktion und den Abläufen von organisiertem Verbrechen interessiert, sondern an den Umständen. „Tödliche Versprechen“ ist eine hochatmosphärische Studie, die über die exakte Ausarbeitung der Figuren ein Milieu menschlich millimetergenau porträtiert, ohne es zu sezieren. Der Film ist nicht nur optisch düster, es regnet nahezu permanent bei spärlichem Licht, sondern auch inhaltlich. Die Bilder des unterweltlichen Londons - von Cronenbergs Hauskameramann Peter Suschitzky kongenial eingefangen - sind dreckig, kalt und unwirtlich. Doch das Thriller-Drama ist weit davon entfernt, über-stylish die Photographie zum Selbstzweck verkommen zu lassen, sie dient lediglich als ein Mosaiksteinchen im Gesamtwerk, um diese Parallelwelt sichtbar zu machen.

    Die Handlung birgt zwar nur einige wenige Überraschungen, die sich dazu auch erahnen lassen, aber darum geht es überhaupt nicht. Die Personen bestimmen das Geschehen. Alles was passiert, geschieht als logische Folge der Charakterisierungen und nicht, weil die Figuren einem starren dramaturgischen Konzept wie in einem üblichen Mainstreamfilm folgen müssen. „Tödliche Versprechen“ hat nichts Überirdisches oder Außerweltliches, aber dennoch inszeniert Cronenberg die Menschen in seinem dunklen Universum als Geschöpfe von Gut und Böse – auf der einen Seite stehen die Engel, auf der anderen die Teufel. Die spannende, den ganzen Film durch unterschwellig mitschwingende Frage richtet sich nach Nikolai, den Anna - wie auch das Publikum - versucht einzuordnen. Autor Knight konstruiert sein Charaktergeflecht dabei so clever, dass er selbst aus dem Naheliegenden noch Überraschendes herausholt.

    Normalerweise ist es immer ein Graus, wenn Schauspieler für Akzente fern ihrer Muttersprache besetzt werden, doch Cronenberg ist ein Perfektionist. Das macht er deutlich. Ein Amerikaner (Mortensen), ein Deutscher (Mueller-Stahl), ein Franzose (Cassel), ein Pole (Skolimowski) und eine Kanadierin (Labrosse) spielen hier waschechte Russen. Und das Wunder: Der Unterschied ist für Nicht-Russen nicht zu bemerken, zu tief sind alle Beteiligten in ihren Rollen verwurzelt. Viggo Mortensen (Herr der Ringe - Trilogie, Hidalgo) arbeitet nach „A History Of Violence“ das zweite Mal mit Cronenberg zusammen und brilliert noch beeindruckender als im Vorgänger. Die Charaktere haben einen ähnlichen Kern, sind aber trotzdem verschieden. Die Oberfläche dieses Nikolai ist eiskalt, arrogant-cool, zynisch, doch der Zuschauer ahnt in jeder Leinwandsekunde, dass sich darunter etwas verbirgt... einfach verbergen muss. Mortensen hat seinen Hut für die Oscars in den Ring geworfen. Bleibt zu hoffen, dass die Academy weise genug ist, diesen aufzunehmen. Naomi Watts (Mulholland Drive, King Kong, The Painted Veil) darf ebenso auf eine neuerliche Nominierung (nach 21 Gramm) hoffen. Anna, die vor kurzer Zeit eine Fehlgeburt erlitt, setzt trotz der offensichtlichen Gefahr alles in das kleine Baby, das sie Christina nennt. Um nicht unterzugehen, will sie Vertrauen in Nikolai entwickeln, was sich als äußerst gefährlich erweist. Watts spielt ihren engelsgleichen Charakter, der die gleiche Zerbrechlichkeit wie ihre Lila aus Marc Fosters Meisterwerk Stay besitzt, mit Bravour zwischen Stärke und Schwäche, zwischen Selbstbewusstsein, Naivität und purer Verzweiflung.

    Vincent Cassels (Die purpurnen Flüsse, Pakt der Wölfe, Entgleist) Kirill wird nach und nach entzaubert. Zuerst ein tougher Unterweltgangster, der nicht davor zurückschreckt zu töten, kommt seine Schwäche immer weiter an die Oberfläche – bis Cronenberg gar einen homoerotischen Ton beimischt, der Bände für die Charakterisierung spricht und ein wahres menschliches Drama auf kleiner Flamme - kaum merklich - aufkocht. Cassel spielt alle Facetten tadellos durch, vom aufbrausenden Hau-Drauf bis zum naiven Idioten, der er in Wahrheit ist. Armin Mueller-Stahl (Night On Earth, „Avalon“) gibt seinen Paten der Londoner Russenmafia vordergründig als netten Menschen, der er aber nicht ist. Das Kunststück: Alle Missetaten Semyons werden nicht physisch sichtbar, sondern entstehen ausschließlich im Kopf des Betrachters, was ihm etwas Diabolisches jenseits des Alt-KGB-Kadercharmes verleiht, ohne gleich dem Offensichtlichen zu verfallen. Ein inszenatorisches Kabinettstückchen.

    Mit Blut hat Cronenberg noch nie gegeizt, doch auch bei „Tödliche Versprechen“ ist die Gewalt zwar nicht immer handlungsrelevant, aber ganz sicher für die Atmosphäre dringend notwendig. Für zartbesaitete Gemüter ist der Film deshalb nicht zu empfehlen. Abgetrennte Finger, durchschnittene Kehlen und Blut in Strömen gehören zum Alltag des Mobs. Und dann ist da noch diese eine spezielle Sequenz, ein kleines Wunderwerk. Mortensen kämpft in einem Badehaus nackt um sein Überleben: Die operettenhaft choreographierte Prügelei ist derart grandios inszeniert und intensiv, dass sich zukünftig sicher viele andere dran messen lassen müssen.

    Fazit: „Tödliche Versprechen“ ist ein zumindest atmosphärisches Meisterwerk, das genial von Howard Shores tonnenschwerem, umwerfenden Violin-Score getragen wird, auf dem die ganze Last der Welt zu ruhen scheint. Mit stärkerem Zug in der Handlung wäre aus dem Material noch mehr herauszuholen gewesen. Wer sich der Kunst eines David Cronenberg nähern will, sollte unbedingt ein Ticket lösen. Die stilistisch ausgefeilte Todesballade ist für Freunde des abseitigen Kinos ein absolutes Muss.

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