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    Dead or Alive
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Dead or Alive
    Von Robert Cherkowski

    1999 war ein großes Jahr in der Karriere des japanischen Regie-Workaholics Takashi Miike. Galt er bis dahin als Festival-Geheimtipp für die ganz eingefleischten Asia-Aficianados, wurde er nun zum Hoffnungsträger des hart gesottenen Genre-Kinos Made in Asia. Mit dem Doppelschlag des düsteren Horror-Thrillers "Audition" und dem wahnwitzigen Gangster-Reißer "Dead or Alive", machte er der Welt klar, dass ein neuer Wahnsinniger die Bühne des Kinos betreten hatte. Zukünftig tobte sich Miike in allen Filmgattungen aus, vom verschrobensten Art-House bis zur versautesten Exploitation – und oft auch beides in ein und demselben Film. In "Dead or Alive" beackerte er das in Japan seit je höchst beliebte Genre des Yakuza-Films, variierte die Zutaten jedoch immer wieder auf unberechenbare und extreme Art. Heraus kam ein Film, der zwischen allen Stühlen sitzt und sein Publikum in einen fatalistischen Strom aus Exzess und Erschöpfung zieht, aus dem niemand heil heraus kommt.

    Im japanischen Sündenbabel Shinjuku tobt ein Krieg unter Gangstern. Die Gang um den stoischen Ryūichi (Riki Takeuchi) mischt an vorderster Front mit und versucht mit allen Mitteln die vorherrschenden Yakuza-Clans und die chinesischen Triaden mit brutalen Attacken zurückzudrängen. Da hat der ausgebrannte Cop Jojima (Shō Aikawa) alle Hände voll zu tun, die Leichen zu sortieren, während er sich daheim um eine erkaltete Ehe und eine sterbenskranke Tochter kümmern muss. Dem senilen Polizeichef scheint die Explosion der Gewalt völlig egal zu sein, während der örtliche Yakuza-Pate Aoki (Renji Ishibashi) versucht, Jojima auf seine Gehaltsliste zu setzen. Auch Ryūichi hat Probleme und Nöte, die ihn ins Straucheln bringen: Sein kleiner Bruder Toji (Michisuke Kashiwaya) kommt zu Besuch und wendet sich empört von ihm ab, als er erfährt, dass ihm sein großer Bruder das Auslandsstudium mit Raub und Mord finanziert hat. Bald schon kreuzen sich die Wege des eiskalten Gangsters und des gramgebeugten Polizisten und auch der Unterweltkrieg eskaliert auf immer brutalere Art.

    "Dead or Alive" ist kein Film, der sacht und auf leisen Sohlen Anlauf nimmt und sich dann steigert. Statt dessen haut Miike seinem Publikum gleich zu Beginn einen Bildersturm aus Sex, Gewalt und aufgeputschtem Wahnsinn um die Ohren, der seinesgleichen sucht. In fünf Minuten etabliert er das sündige Unterwelt-Viertel "Shinjuku" als Vorhof der Hölle: Eine junge Frau wird nackt vom Dach eines Mietshauses geworfen und klatscht blut spritzend auf den Asphalt. Ein homosexueller Gangster wird mitten im Akt von einem Killer überrascht, der ihm mit psychotischem Blick die Kehle aufschlitzt. Auf seinem Chopper cruist der eiskalte Gangleader Ryūichi durch die nächtlichen Straßen und erschießt einen Yakuza (Ren Osugi), der erst kurz zuvor eine 10 Meter lange Koks-Line vernichtet hat. Und mittendrin Zwischenschnitte auf die anderen Hauptfiguren: den ausgebrannten Jojima, Yakuza-Hintermänner wie den durchtriebenen Aoki (Renji Ishibashi) und Ryūichis Gespielin (Mizuho Koga), die sich an den Gogo-Stangen der Unterwelt-Clubs räkelt.

    Hier ist ohne Frage der Teufel los, doch so geht es nicht weiter. Nach diesem furiosen Beginn tritt Miike erst einmal auf die Bremse und nimmt sich viel Zeit, um vom Leben und Sterben in der Halb- und Unterwelt, den Hinterzimmern und den engen Gassen Shinjukus zu berichten. Er entwirft das Bild einer moralischer verkommenen, durch und durch korrupten Welt, die von lüsternen Unterweltgrößen, irren Jung-Gangstern und unfähigen Polizeichefs regiert wird. Immer wieder gestattet er seinen knallharten Helden aber Momente unerwarteter Reflexion und Zärtlichkeit. Etwa wenn sich der hart gesottene Bulle Jojima durch seinen Alltag schleppt und daheim dem Sterben seiner Tochter und dem Desinteresse seiner Frau beiwohnen muss. In solchen Moment blickt Hideo Yamamotos konzentriert geführte Kamera voller Mitleid auf einen Mann, den das Leben klein und mürbe gemacht hat. Ihm steht mit Ryūichi ein Mann gegenüber, dem das Leben nichts bedeutet. Jederzeit würde er Widersacher, Weggefährten und auch sich selbst auslöschen. Erst als sein verzärtelter Bruder ihn besucht und vor der Grausamkeit seines Alltags die Nase rümpft, bekommt sein Panzer erste Risse. Ändern wird er dennoch nichts, sondern unablässig einen grausamen Krieg an allen Fronten kämpfen, denn in der Welt permanenter feindlicher Übernahmen ist für Zweifel und Skrupel kein Platz.

    In der Darstellung des panasiatischen Gangsterkrieges, in dem sich Ryūichi und seine Mitstreiter befinden erkennt man ein weiteres Steckenpferd Miikes. Angesiedelt im Neoliberalen Japan mit all seinen kultivierten Spleens und nationalen Schuldgefühlen tummeln sich expansionswütige Festlandchinesen, drängen selbstmörderische Taiwanesen auf den Markt, während die chinesischen Immigranten um Ryūichi als Troubleshooter allein gegen alle kämpfen. Miike zeichnet ein grelles Bild des modernen Asiens, das ganz nebenbei hochpolitisch ist. Das wahre Zentrum des Films ist jedoch die menschliche Seele, die den ambivalenten Antihelden immer schneller abhanden zu kommen droht. Jeder Figur verfügt über eine mit zarten Pinselstrichen angedeutete Vorgeschichte oder wird zumindest durch ein paar Spleens mehrdimensional angelegt. Niemand wird böse geboren, doch in der Welt von "Dead Or Alive" wird man es doch über kurz oder lang.

    Oft hat Miike mit dem Ausfransen seiner Erzählungen zu kämpfen. Und auch hier dauert es nach dem langsam erzählten Mittelteil einige Zeit, bis wieder Fahrt aufgenommen wird, die in bleihaltigen Konfrontationen mündet, bevor sich die überlebenden Streiter Jojima, Ryūichi und ein paar Handlanger zu einem Showdown zusammenfinden, über dessen apokalyptische Ausmaße viel geschrieben wurde. Diese finale Zerstörung der Welt ist zwar einerseits ein großer Gag, den Miike aus schierem Übermut raushaut, doch andererseits auch das logische Finale seiner Vision. Alle Figuren haben alles verloren, jede Gefühlsregung, die sie gezeigt haben, wurde von einem erbarmungslosen Schicksal gegen sie gewandt. In so einer Welt kann es kein Happy End geben und wenn die Welt dabei gleich mit untergeht, ist das nur konsequent.

    Fazit: Für Asia-Fans längst ein Klassiker – für alle Anderen ein fordernder Geheimtipp aus dem Oeuvre eines der wildesten und unberechenbarsten Regisseure der Gegenwart.

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