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    Stille Seelen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Stille Seelen
    Von Kevin Huber

    „Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen" wusste der Philosoph Bernhard von Chartres bereits im 12. Jahrhundert. Unsere Fähigkeit, nachfolgenden Generationen Wissen, Traditionen und Bräuche zu überliefern, ist ein Alleinstellungsmerkmal der Menschheit und eine der wenigen Eigenschaften, die uns von Tieren unterscheidet. In seinem poetischen Drama „Stille Seelen" findet der russische Regisseur Aleksei Fedortschenko einen intimen Blickwinkel auf diese Weitergabe von Informationen. Für seine Figuren ist das Fortführen von Traditionen kein kühler Prozess, sondern vor allem ein Versuch, in Erinnerung zu bleiben, im eigenen Familien- oder Kulturkreis auf gewisse Weise weiterzuleben und so die eigene Sterblichkeit zu überwinden. Fedortschenko verbindet den Tod einer jungen Frau mit dem Aussterben einer alten Kultur und macht „Stille Seelen" dabei zu einer berührenden Meditation über das Leben, die Liebe und die Vergänglichkeit.

    Aist (Igor Sergeev) ist Angehöriger der (inzwischen ausgestorbenen) Merja, einem in Russland lebenden Volk finno-ugrischer Abstammung. Er betrauert das zunehmende Aussterben seiner Kultur und versucht als Teilzeitschriftstiller, die Geschichten der Merja für die Nachwelt festzuhalten. Als eines Tages Tanya (Yuliya Aug), die Ehefrau von Aists Freund und Arbeitgeber Miron (Yuriy Tsurilo), stirbt, bittet dieser ihn, bei einer traditionellen Merja-Bestattung Unterstützung zu leisten. Mit Tanyas sterblichen Überresten und zwei Vögeln im Gepäck verlassen die beiden Männer ihr Heimatdörfchen Neja und begeben sich auf eine lange Reise durch die Weite Russlands, um den Leichnam zu verbrennen und die Asche dem Wasser zu übergeben.

    Von Anfang an verweigert sich Regisseur Aleksei Fedortschenko den Anforderungen einer stringenten Erzählung und setzt stattdessen auf visuelle Poesie und verleiht seinem Film die Konsistenz eines Traums. Raum und Zeit verschwimmen, eine hypnotische Sogwirkung entsteht. Die Reise der beiden Männer durchs Land wird gleichzeitig auch eine metaphysische Reise ins Innere. Das stille, vollkommen natürliche und ungekünstelte Auftreten der beiden exzellenten Hauptdarsteller wird mit langen Einstellungen von der weiten, fremdartig wirkenden Landschaft russischer Einöde und Bildern voller kryptischem Symbolismus kontrastiert. Rückblenden, in denen die ungewöhnlichen Bräuche des Merja-Volks, wie etwa eine Wodka-Dusche, oder bizarr anmutende Erinnerungen an Aists Kindheit geschildert werden, geben dem Film eine zusätzliche surreale Komponente. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die herausragende Kameraarbeit von Mikhail Krichman („The Return – Die Rückkehr"), der in seinen großartigen Bildern Profanes und Magisches vereint.

    Der Tod mag das bestimmende Handlungselement von „Stille Seelen" sein, aber in düstere Stimmung verfällt der Film dennoch nie. Stattdessen herrscht ein sanfter, melancholischer Grundton vor, der zum schweigsamen Charakter von Aist und Miron passt, die kein überflüssiges Wort verlieren. Selbst als sie Tanyas Leiche waschen und auf die Reise vorbereiten, zeigen sie keine Trauer und gehen mit zärtlicher Sorgfalt ihrer Arbeit nach. Mehr als das Notwendigste sprechen sie nur, wenn „geraucht" wird, eine Merja-Tradition, bei der der Ehepartner des Verstorbenen seinem Freund intime Details über das Liebesleben des Paares verrät. So teilen die Männer glückliche Erinnerungen, während sie ihren Verlust im Stillen verarbeiten. Die Einordnung des Geschehens erleichtert Fedortschenko dem Betrachter, indem er über einen Off-Erzähler weiterführende Gedanken und Erläuterungen einfügt.

    Was in den nur 80 Minuten von „Stille Seelen" erzählt wird, ist so simpel wie wahr: Alles ist vergänglich, ob das Leben eines Einzelnen oder die Existenz ganzer Kulturen. Mit dem Überwinden ihrer Trauer reift in Aist und Miron die Akzeptanz ihrer eigenen Sterblichkeit. Die Liebe hat dabei eine besondere Bedeutung: Auch diese mag zwar nicht ewig andauern, aber die Hoffnung, einen geliebten Menschen nach dem Tod wiederzusehen, nimmt der unausweichlichen Vergänglichkeit einen Teil ihres Schreckens.

    Fazit: „Stille Seelen" ist eine bildgewaltige und berührende Reise durch Raum und Zeit gelungen: eine melancholische Odyssee, die auf intensive Weise ein Gefühl des Friedens im Angesicht der Sterblichkeit vermittelt.

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