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    Find me guilty
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Find me guilty
    Von Andreas R. Becker

    Gerichtsfilme sind so eine Sache. Eine, die aufgrund des begrenzten und in der Regel unspektakulären Hauptspielorts von den Darstellern, dem Thema und – in erster Linie – von dessen sprach- und filmrhetorischer Aufbereitung lebt. Wie das, dramaturgisch ausgefeilt und gesellschaftlich relevant, gut funktionieren kann, hat zum Beispiel Joel Schumacher 1996 in „Die Jury“ vorgeführt. Ein Jahrzehnt später und fast ein halbes Jahrhundert nach seinem eigenen, international gefeierten Die zwölf Geschworenen, bringt uns Sidney Lumet mit „Find Me Guilty“ eine zwiespältige Verfilmung des längsten Verfahrens der amerikanischen Justizgeschichte gegen die Mafia. Genauer gesagt richtete es sich gegen 20 Mitglieder der Lucchese-Familie, in dessen Mittelpunkt Jack „Jackie Dee“ DiNorscio stand.

    Letzterer wird verkörpert durch den bislang eher aus Brachial-Rollen bekannten Vin Diesel, der dem Charakter Jacks durchaus nicht nur seiner Männlichkeit und einem Designeranzug halber eine gewisse Plastizität verleiht und auf weitere Rollen jenseits von „Pitch Black“ und xXx – Triple X hoffen lässt. Witzig: Ursprünglich war Joe Pesci von Lumet für die Rolle vorgesehen, der sich jedoch als unpässlich erwies und letztlich fiel sie dem im Film perückenbehaarten Diesel zu, der täglich zwei Stunden in der Maske saß und auch etliche Eiscreme-Kilos für die Rolle zulegen musste. Ebenso wie schon Steven Spielberg, der Vin Diesel für Der Soldat James Ryan castete, hatte auch Lumet den Actionstar über den Kurzfilm „Short Diversity 5“ entdeckt. Diesel, der eine vollständige Schauspielausbildung absolvierte und diverse Jahre nach eigenen Aussagen „Klinken putzen“ musste und sogar als Türsteher arbeitete, spielte alle fünf Rollen in diesem Film selbst, schrieb das Drehbuch und führte Regie. Kein Wunder also, dass das verkannte Talent in „Find Me Guilty“ das Sprungbrett für weitere Charakterrollen sah und auch auf der Liste der Produzenten zu finden ist.

    Da DiNorscio selbst vor Beginn des Prozesses bereits zu 30 Jahren verurteilt wurde und nichts mehr zu verlieren hat, beschließt er zum Unbehagen einiger Familienmitglieder, sich selbst zu verteidigen und zieht eine Show ab, in der er nicht selten die Gemüter erhitzt und dabei mit dem Richter und auch seinen Verwandten aneinander gerät. Die Punchline des von ihm geführten Versuchs, mit Witz und Menschlichkeit die Jury auf seine Seite zu bringen, lautet: „I’m a gagster, not a gangster“. Getreu diesem Motto beobachten wir einen Prozess, der, seines oft völlig absurden Ablaufs zum Trotz, angeblich aus größtenteils authentischen, im Gerichtssaal aufgezeichneten Dialogen besteht. Nicht ganz hieb- und stichfeste Beweise werden aufgeführt und zahlreiche (Kron-)Zeugen vorgeladen, die die Familie zu Fall bringen sollen und die oft eine persönliche Beziehung zu Jackie hatten. Trotz dieses Verrats an seiner eigenen Person erweist dieser sich noch als absolut loyal. Selbst als sein eigener Cousin, der nach dem gescheiterten Versuch, Jackie zu ermorden, in den Zeugenstand berufen wird, verliert er nicht die Fassung. Ganz im Gegenteil: „Do you believe me, that I still love you?“ Seine Liebe wird jedoch nicht von allen Seiten erwidert. Die vernichtende Antwort seines Cousins lautet „No“ und Boss Joey Calabrase ermahnt ihn öfter, sich seinen „love shit“ sonst wohin zu stecken. Besonders nachhaltig wirkt in diesem Zusammenhang eine kurze, aber intensive Besuchsszene im Gefängnis mit Jackies Ex-Frau (Annabella Sciorra): In einem heftigen Regen verletzter Gefühle flackert eine Ahnung davon auf, dass es sich bei Jackie eben doch nicht um den harmlosen Sonnyboy handelt, als der es sich zu verkaufen versucht, sondern um einen gewissenlosen und selbstgerechten Drogendealer.

    Um Jackie dennoch in ein positives Licht zu rücken, wird der Staatsanwalt Sean Kierney (Linus Roache, Batman Begins) konsequenterweise von Lumey als verbissener Menschenfeind und Prinzipienreiter aufgeführt. Dessen Sorge über einen Freispruch strahlt ebenfalls nur in einer einzigen kurzen Szene in einem Wutausbruch berechtigten Ernst aus. Des Weiteren beschränkt sich der Film fast ausschließlich auf die Geschehnisse in den Hallen der Gerechtigkeit. Nichts zu sehen von Szenen des Drogenmissbrauchs, des Dealens, von herrschsüchtigen Mafiabossen und Schießereien, die im Gerichtssaal manchmal mehr, manchmal weniger explizit erwähnt und bewiesen werden, an deren Existenz aber auf jeden Fall kein Zweifel gelassen wird.

    Einseitig? Kein Wunder: Immerhin arbeitete der echte DiNorscio, der erst kurz vor Beendigung des Films starb, selbst am Drehbuch mit, das bereits direkt nach dem Prozess gegen Ende der 80er Jahre in der Entstehung begriffen war. Zunächst über Interviews im Gefängnis, nach seiner verfrühten Entlassung nach 17 abgesessenen Jahren im Jahr 2002 wirkte DiNorscio dann direkt ein. Auch ein privates Treffen zwischen dem gesundheitlich bereits stark angeschlagenen Jackie Dee und seinem Darsteller gab es, wie letzterer in einem Interview bekannt gab. Zu Gute zu halten ist Jackies Plädoyers allerdings ein intelligenter Umgang mit gängigen Klischees. Aber obwohl er damit unser stereotypenhaftes Denken – und das der Ermittler – aufdeckt, wird man das Gefühl nicht los, dass er die Sachverhalte zu seinem eigenen Vorteil verdreht: „Und woher wussten Sie, dass das alles Italiener waren? Sprachen sie Italienisch? Ach so, das konnten Sie nicht hören. Schwarze Haare hatten sie also? Könnten es nicht auch Griechen gewesen sein?“

    Wieviel auch immer von den Geschehnissen im Film nun wahren Begebenheiten entspricht oder zu Unterhaltungszwecken leicht angepasst wurde, sei dahingestellt. Fest steht, dass der Film einen heftig umstrittenen Freispruch rechtfertigt, der am Ende eines fast dreijährigen Verfahrens stand, indem er den Zuschauer auf geschickte Weise manipuliert durch die Art der Charaktere, Wahl der Darsteller und Dauer ihrer Auftritte, und vor allem durch Nicht-Gezeigtes die Sympathien lenkt. Aber auch sonst ist „Find Me Guilty“ ein eher durchschnittliches Produkt des Mainstream-Kinos. Zwar kann uns Jackie einige Lacher abringen und durch die psychologisierende Darstellung, gepaart mit einigen flott-jazzigen Ohrwürmern vom Typ eines „When You’re Smiling“, werden wir durchaus erheitert: Reine Nervensache meets „Die Jury“ funktioniert ganz klar auf einer Ebene der reinen Unterhaltung, der man sich insbesondere angesichts des sympathischen Jackies nur schwer entziehen kann. Schließlich bleibt jedoch ein großes moralisches Fragezeichen im Raum stehen. Nach einem Prozessmarathon mit über 600 Verhandlungstagen, 20 Angeklagten, ebenso vielen Verteidigern und insgesamt 76 Anklagepunkten fällte die Jury in rekordverdächtiger Zeit von gerade 14 Stunden das Urteil: alle Angeklagten, alle Anklagepunkte, nicht schuldig.

    Zum einen wird so zwar ein durchaus kritisches Licht auf das amerikanische System der Rechtssprechung geworfen, in dem ein (mehr oder weniger) repräsentativ zusammengewürfelter Haufen aus Bürgern des Bundesstaates über das Schicksal von Angeklagten entscheidet. Und nicht zuletzt fallen hierbei sicherlich die oft flammenden und rhetorisch perfekten Schlussplädoyers und deren Reihenfolge ins Gewicht, die im Falle des Lucchese-Prozesses alleine schon ganze fünf Tage (!) in Anspruch nahmen. „A laughing jury is not a hanging jury“, bekommen wir im Film zu hören. Mit seiner absolut integeren Loyalität gegenüber Freunden und Familie, einer gewissen Bauernschläue und Schlagfertigkeit, die Jackie nicht abzusprechen, sticht er pointenreich selbst die erfahrenen Ankläger mehr als einmal aus und liefert so den fragwürdigen Beweis für diese juristische Redewendung.

    Zum anderen aber – und das ist das eigentlich Schlimme – unterwirft sich die filmische Darstellung eines auf Tatsachen basierenden, massiv diskutierten Gerichtsurteils dieser psychologischen Manipulation der Jury und setzt sie am Zuschauer im Kinosaal nahtlos fort, anstatt mit einer kritischeren Auseinadersetzung die große Ambivalenz des behandelten Themas hervorzuheben. So bleibt letztlich der faustsche Ausruf „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ als Fazit eines durchaus nicht schlecht gemachten Unterhaltungsfilms stehen. Denn durch die gezielte (Ab-)Lenkung der Emotionen des Zuschauers und Verklärung von Sachverhalten dient „Find Me Guilty“ als mustergültiges Negativbeispiel für die Macht des Films. Gut, dass Bertolt Brecht ihn nicht mehr sehen wird...

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