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    Als das Meer verschwand
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Als das Meer verschwand
    Von Jörn Schulz

    An dieser Stelle soll einmal auf einen häufig begangenen Irrtum hingewiesen werden. Wenn vom staubig roten Kontinent Australien und seinem unmittelbaren Nachbarn Neuseeland die Rede ist, macht nicht gerade selten die missverständliche Phrase „am anderen Ende der Welt“ die Runde. Am anderen Ende? Ist unsere Erde also doch eine Scheibe? Haben sich die neuen und neuesten Erkenntnisse aus der Astronomie noch immer nicht ganz durchsetzen können? Hat Magellans Erdumrundung im 16. Jahrhundert doch nicht alle Kritiker überzeugt? All denen soll hiermit gesagt sein: Sie ist rund, und deshalb muss es natürlich „auf der anderen Seite der Welt“ heißen, wann immer von Down-Under und Kiwi-Country gesprochen wird. Dass letzteres nicht nur ein wunderschönes Fleckchen Erde ist, sondern auch äußerst sehenswerte Filme hervorbringt, beweist nun einmal mehr der neuseeländische Regisseur und Drehbuchautor Brad McGann mit seinem mysteriösen Familiendrama „Als das Meer verschwand“. Aus traumähnlichen Bildern, einer exzellenten Erzählstruktur und einer bewegenden Handlung konstruiert er die fiktive Geschichte der Familie Prior, die eher an einen packenden Thriller erinnert als an ein klassisches Familiendrama und dennoch so nah am Leben dran ist.

    Fortlaufen, nur weg von zu Hause, der Vergangenheit entkommen – dass dachte sich Paul Prior (Matthew Macfadyen) vor rund siebzehn Jahren, als er das elterliche Anwesen verließ und in die weite Welt zog, um dort ein neues Leben zu beginnen. Doch nun bringt ihn der Tod seines Vaters zurück in die Heimat, in ein kleines Kaff in Central Otago auf der Südinsel Neuseelands. Plötzlich sieht sich der inzwischen zum Kriegsfotografen avancierte Paul mit alten Bekannten und noch immer nicht verheilten Wunden konfrontiert. Da ist sein Bruder Andrew (Colin Moy), der Pauls zurückliegendes Verschwinden noch nicht überwunden hat; und da ist Jackie (Jodie Rimmer), Pauls damalige große Liebe, mit der er alt werden wollte, sich sogar ihren Spitznamen auf seine Zehen hat tätowieren lassen. Weil er fühlt, etwas aufarbeiten zu müssen, entschließt sich Paul – anfangs zwar widerwillig – zu bleiben und sich den Hinterlassenschaften und dem elterlichen Haus anzunehmen. Nachdem er eine temporäre Stelle als High-School-Lehrer annimmt, lernt er Jackies Tochter, Celia (Emily Barclay), kennen, woraus sich eine seltsame und ungleiche Freundschaft entwickelt. Als Celia eines Tages spurlos verschwindet, steht für die Bewohner der Kleinstadt Paul als Sündenbock fest. Wenn die Dinge doch nur so einfach wären - es beginnt eine Spurensuche, die alte Familiengeheimnisse zutage fördert und das Leben aller Beteiligten nachhaltig verändert…

    Dass Familiengeschichten nicht öde und angestaubt sein müssen, sondern äußerst innovativ und durchaus witzig präsentiert werden können, zeigte erst kürzlich Pedro Almodóvar mit seinem Frauendrama Volver. Einen ganz anderen, aber ebenso interessanten Ton schlägt der Neuseeländer McGann mit seiner Geschichte an. Dabei bedient er sich eines fast kriminalistischen Stils, der sich behutsam bis zur Hälfte des Films aufbaut und dann in der Zuspitzung des Geschehens die Schlinge um die alten Familiengeheimnisse immer enger zieht. Stück um Stück breitet sich die komplexe Geschichte aus und offenbart die enge emotionale Beziehung der Charaktere zueinander. Mit einer sehenswerten Erzählstruktur, die Gegenwart und Vergangenheit dicht an dicht miteinander verknüpft und Rückblenden aus der Vergangenheit immer wieder nahtlos in die Erzählung einflechtet, wird dem Zuschauer die traurige Geschichte der Priors nähergebracht und somit ein psychologischer Einblick in die Charaktere ermöglicht. Ganz nah dran ist der Blick an Pauls Psyche, die durch seine Tätigkeit als Kriegsfotograf sichtlich gelitten hat. Ein realistisches Bild übrigens, denn wie aus der hervorragenden Dokumentation War Photographer zu erfahren ist, tragen fast alle Kriegsfotografen früher oder später ein großes, seelisches Problempäckchen mit sich herum. Die starken, emotionalen Bilder verdeutlichen dies. So wird in einer Szene, die Paul nass und kauernd in der Badewanne sitzend zeigt, eines seiner emotionalen Löcher mit einer bläulich kalten Tonung unterstrichen, was einfach hängen bleibt.

    Fantastisch natürlich auch die Außenaufnahmen, die die weitgeschwungenen Berglandschaften der Region Central Otago in voller Pracht ablichten. Wer sich der „Herr der Ringe“-Trilogie verweigert hat, wird spätestens hier sehen dürfen, wie zauberhaft Neuseeland ist. Ganz wichtiger Punkt, der den Film mit einem poetischen Hauch verziert: „Als das Meer verschwand“ steckt voller Lyrik und schönen Metaphern. Eingesponnen ist die märchenhafte Geschichte über das Verschwinden des Meeres, die Celia im Laufe des Films für einen Schreibwettbewerb verfasst und die literarisch wertvoll ist. George Frederick Watts Gemälde „Hope“ wird poetisch umschrieben, was den Film letztlich nicht nur zu einem Seh- sondern auch zu einem Hörerlebnis werden lässt. Dazu trägt auch der Soundtrack bei, der unter anderem Stücke der US-amerikanischen Rockpoetin Patti Smith beinhaltet.

    Die Last alter Familiengeheimnisse und wie sich die Auswirkungen in die nächsten Generationen verschleppen können – so ließe sich das Hauptthema von „Als das Meer verschwand“ wohl grob zusammenfassen. Doch der Film beinhaltet viel mehr. Er zeigt auch, wie „gefährlich intim Kleinstädte sein können“ (Brad McGann) und wie wenig es bringt, vor der eigenen Vergangenheit wegzulaufen. Sich ihr zu stellen und damit umzugehen, scheint der einzig gesunde Weg zu sein, so eine mögliche Botschaft des Films. „Als das Meer verschwand“, dessen englischer Originaltitel „In my Father’s Den“ lautet und auf dem gleichnamigen Roman von Maurice Gee basiert, wurde von der ausländischen Kritik nicht ohne Grund mit Lobhuldigungen bedacht und auf Festivals von Toronto bis Seattle mit Preisen und Auszeichnungen überhäuft. Dieses kunstvolle, aber nie abgehobene, sondern nah am Leben spielende Familiendrama zeugt davon, dass auch auf der andern Seite der Welt – leider noch immer viel zu oft unbemerkt – wunderbare Filme entstehen.

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