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    Familiengrab
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Familiengrab
    Von Ulrich Behrens

    „Familiengrab“, Alfred Hitchcocks 53. und letzter Film – farbig, so farbig, dass man schon sagen könnte, hier sei es ihm vor allem auch um den Einsatz von Farbe als dramaturgisches Mittel gegangen – ist in gewisser Weise eine Ausnahmeerscheinung. Ganz dem Zeitgeist der 70er Jahre verhaftet, auch teilweise in der Sprache, entspinnt der Meister hier eine Geschichte, in der nicht ein einzelner Mörder oder Gangster sein Unwesen treibt, sondern gleich zwei Paare mit allerdings ganz unterschiedlicher Mentalität und besonderen Charakteren aufeinander losgehen und dem Traum vom „Reichtum-ohne-allzu-große-Mühe“ nachjagen. Streckenweise äußerst humorvoll legt Hitchcock hier besonderen Wert auf die detaillierte Zeichnung seiner Charaktere und lässt sie geradezu aufeinander prallen. Wiederum war es Freund Ernest Lehman, der das Drehbuch für Hitchcocks 53. Film schrieb, wie schon für Der unsichtbare Dritte.

    Das Alter bringt es wohl oft mit sich, dass man sein Gewissen erleichtern will, wenn man denn etwas zu verbergen hat. So geht es auch der reichen, über 80 Jahre alten Julia Rainbird (Cathleen Nesbitt), die vor langer Zeit ihre längst verstorbene Schwester dazu gezwungen hatte, deren unehelichen Sohn zur Adoption frei zu geben, damit die Ehre der Familie nicht in den Schmutz gezogen wird. Da sie selbst nicht in der Lage ist, ihren Neffen ausfindig zu machen, damit dieser sie nach ihrem Tod beerben kann, beauftragt sie für satte 10.000 Dollar die junge Blanche Tyler (Barbara Harris) und ihren taxifahrenden Freund George Lumley (Bruce Dern), den verschollenen Neffen zu finden. Blanche und George spielen die Hilfsbedürftigen, sind aber letztlich nur hinter dem Geld der alten Lady her. Zudem hat Blanche einen Trumpf in der Hand: Sie kann hellsehen, behauptet sie jedenfalls, und zieht abergläubischen Menschen bei spiritistischen Sitzungen das Geld aus der Tasche.

    So ziehen Blanche und ihr verhinderter Schauspieler George – der sich abwechselnd als Privatdetektiv und Anwalt ausgibt – los und stoßen auf den vornehmen, zumindest vornehm sich gebenden Juwelier Arthur Adamson (William Devane) und dessen Freundin Fran (Karen Black). Aber das nette Pärchen stellt sich als Gangster-Duo heraus, Spezialität: Kidnapping und Erpressung, Ziel: „Erwerb“ von Diamanten. Dann spielt da noch das Grab des angeblich verstorbenen Erben eine Rolle. Das ist nämlich leer. Und als Blanche und George einen Bischof (William Prince) befragen wollen, der ihnen Auskunft über den Verbleib des Enkels geben könnte, wird der entführt ...

    Wie oft bei Hitchcock, ist die eigentliche Geschichte auch in „Familiengrab“ recht simpel. Was er aber daraus macht, gleicht einem Feuerwerk an Humor und Suspense. Der Originaltitel „Family Plot“ ist ein recht mehrdeutiger für die dargestellte Handlung. Das Grab des Neffen der alten Mrs. Rainbird, die beiden Paare, die hinter ihrem Geld her sind, der geheimnisvolle Tod der Pflegeltern von Arthur Adamson – all das konzentriert sich im Titel des Films. Plot bedeutet aber auch Handlung und Intrige: Familiengeschichte und Familienintrige.

    Wie in kaum einem anderen Film treibt Hitchcock die Geschichte dadurch voran, dass er vier unterschiedliche Charakter aufeinander treffen lässt. Alle vier eint die Gier nach schnell verdientem, kriminell ergaunerten Geld. Während Blanche und George eher die kleinen, miesen, aber sympathischen Gauner sind, repräsentieren Arthur und Fran die gewieften Schurken: Blanche – exzellent gespielt von Barbara Harris – ist naiv, hat einen leichten Knall, könnte man auch sagen, wirkt ab und zu psychotisch, und ihr Faible für spiritistische Meetings und Hellseherei hat – neben der Gier nach Geld – viel mit ihrer eigenen Prädestination zu tun.

    George bildet sich ein, zu Höherem berufen zu sein, zum Schauspieler. Dass ihn keiner haben will, schreibt er nicht seiner eigenen Unfähigkeit zu, sondern natürlich der Dummheit anderer. George meckert herum, hat Angst, ist feige und behauptet natürlich, er sei das glatte Gegenteil von allem. Bruce Dern kann dieser Rolle darüber hinaus einiges an Komik abgewinnen.

    Arthur ist der vornehme Gangster, der Egozentriker par excellence, der über Leichen geht, um an einen außergewöhnlichen Diamanten zu kommen. Er scheut nicht einmal davor zurück, einen Priester zu kidnappen. Doch wehe, es kommt ihm jemand ins Gehege, noch dazu zwei Versager wie Blanche und George, die ihm nicht ebenbürtig sind. William Devane war lange auf solche Rollen – zu Recht – spezialisiert (etwa in Der Marathon Man (1976) mit Dustin Hoffman und Sir Laurence Olivier). Fran ist ihm eine gute Partnerin, attraktiv, geheimnisvoll, verwandlungsfähig und zu allem bereit.

    Aus der Konfrontation dieser vier ergeben sich etliche komische Szenen, und manchmal wird man den Eindruck nicht los, als wolle Hitchcock – sozusagen als Resümee seines Werkes – sich selbst auf den Arm nehmen. Das Grab, in dem angeblich ein Toter liegt ist leer. Der Suspense-Film ist nicht tot. Man muss ihn nur ausbuddeln, nein: finden, vielleicht neu erfinden, auf der Höhe der Zeit. Hitchcock findet ihn noch einmal, klar, mit verschrobenen Charakteren, Karikaturen von Gangstern und einer völlig unwahrscheinlichen, abstrusen Story. Ein selbstironischer Rückblick? Eine Parodie auf das Genre, an dem er so unglaublichen Anteil hatte? Eine Aufforderung an seine Nachfolger, den Suspense-Film weiterzuentwickeln? Vielleicht. Wer siegt am Schluss des Films? Der dreiste Gangster, das unbeholfene, aber nicht dumme Gangsterpärchen oder etwa die Gerechtigkeit? Auf jeden Fall das Genre.

    Fazit: Es gibt Hitchcock-Fans, die sein letztes Opus gar nicht mögen. Denn der Film ist in gewisser Weise auch ein riesiger und riesig inszenierter Nonsens. Hitchcock hat mit „Familiengrab“ bewiesen, dass er auch aus trivialem Nonsens einen spannenden und komischen Thriller machen kann, der zudem in gewisser, sarkastischer Weise auch ein Erbe darstellt.

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