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    Lornas Schweigen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Lornas Schweigen
    Von Christian Schön

    Das Brüderpaar Jean-Pierre und Luc Dardenne zählt zu den wenigen, die von sich behaupten können, gleich mehrfach in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet worden zu sein. Zum ersten Mal gelang ihnen das 1999 mit „Rosetta“ – einer Sozialstudie, die eine junge Frau porträtiert, die gemeinsam mit ihrer alkoholabhängigen Mutter in einer Wohnwagensiedlung lebt. Im Jahr 2005 legten die Dardennes dann mit ihrem bisher erfolgreichsten Film „L’Enfant“ nach. Dieser schockierte mit einer Geschichte über eine junge Familie am unteren Ende der Gesellschaft, die ihr Kind verkaufen, um an Geld zu kommen. In diesem Jahr versuchten die Belgier erneut, auf dem Festival zu reüssieren, scheiterten aber dann am französischen Beitrag Die Klasse. Viel verändert am Erfolgsrezept hat das Regieduo bei „Lornas Schweigen“ nicht, obwohl sie qualitativ nicht ganz an die Höhe von „L’Enfant“ heranreichen. Das Sozialdrama erzählt auf eindringliche Weise die Geschichte der Albanerin Lorna, die mit Hilfe einer Bande, die Scheinehen in Belgien arrangieren, versucht, dort ein eigenes Leben aufzubauen.

    Lorna (Arta Dobroshi) hat einen Traum: Sie will gemeinsam mit der Liebe ihres Lebens, Sokol (Alban Ukaj), eine kleine Snack-Bar eröffnen. Dafür ist sie zu großen Opfern bereit. Um an das Geld zu kommen, geht sie Scheinehen ein, die anderen helfen, an die belgische Staatsbürgerschaft zu kommen. So zum Beispiel auch mit dem Junkie Claudy (Jérémie Renier). Dieser traktiert sie jedoch, da sie seine einzige Bezugsperson ist, ob er nun gerade auf Entzug oder mitten im Rausch ist. Lorna, ihrer Funktion in diesem Zweckbündnis bewusst, versucht sich so gut wie möglich abzugrenzen. Fabio (Fabrizio Rongione), der Chef der Bande, hat für Claudy jedoch schon einen Plan. Ein Mord, der nach einer Überdosis aussehen soll, soll Lorna aus der Ehe befreien. Doch als Claudy ernsthaft mit den Drogen aufhört, bekommt Lorna Mitleid mit ihm und will ihm zumindest das Leben retten. Doch der nächste Heiratskandidat, ein reicher Russe, steht schon vor der Tür. Eine schnelle Lösung muss her. Zu allem Überdruss schläft Lorna eines Abends mit Claudy, um ihn vor einem Rückfall zu bewahren. Lorna glaubt sich schwanger, Claudy wird mit einer Überdosis aufgefunden, und der Russe will eine schnelle Heirat mit einer nicht-schwangeren Lorna. Für Lorna selbst scheint kein Ausweg zu bleiben…

    Als wahre Entdeckung unter der Riege der Schauspieler von „Lornas Schweigen“ gilt seit der Premiere in Cannes die Hauptdarstellerin Arta Dobroshi. Die gebürtige Albanerin, die bisher lediglich bei einer kleinen tschechischen und einer deutsch-albanischen Produktion vor der Kamera stand, bekam mit der Lorna ihre erste Hauptrolle. Der schwierige Charakter der Figur verlangte Dobroshi einiges ab, was man in nahezu jeder Filmminute mit ihr merkt. Nicht zuletzt wegen ihres eindringlichen Spiels kann sich im Film die klaustrophobische Stimmung entfalten, die auch vom Zuschauer Durchhaltevermögen fordert. Nach „L’Enfant“ und „Le Promess“ steht Jérémie Renier als Claudy bereits im dritten Dardenne-Film vor der Kamera. Nach Lorna ist es vor allem seine Figur, an der alles steht und fällt. Gingen die Dardennes bei der Besetzung der Lorna noch ein Risiko ein, war man mit Renier auf der sicheren Seite. Alle weiteren Figuren in „Lornas Schweigen“ bleiben eher schemenhaft und stereotyp.

    Der Beginn der Zusammenarbeit der Dardennes-Brüder ist im Bereich des sozialkritischen Dokumentarfilms angesiedelt. Bereits diese frühen Dokumentationen, die immer Brennpunkte der belgischen Gesellschaft ins Visier nahmen, atmen den naturalistischen, krass-realistischen Ton, der ihren Regiestil seither prägt. Einstellungen mit einer leicht nervösen Handkamera dominieren auch in „Lornas Schweigen“ und vermitteln so das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein. Der Verzicht auf künstliche Studiobeleuchtung tut sein übriges und lässt den Eindruck eines dezenten Dogma-Films entstehen. Die einzige Neuerung, die im Vergleich zu den bisherigen Spielfilmen zu verzeichnen ist, ist die relative Distanz zum Geschehen. Das äußert sich darin, dass man als Zuschauer mit weniger Close-Ups als gewohnt konfrontiert ist und so einen neutraleren Blickwinkel auf das Gezeigte zu haben scheint. Das hat zur Folge, dass man gegen Ende des Films den Bezug zu Lorna und ihrer möglicherweise vermeintlichen Schwangerschaft verliert. Auch der Titel des Films, der auf das Schweigen von Lorna zu den dringlichen Fragen verweist, nimmt diese vergrößerte Distanz zur Hauptfigur auf.

    Als streitwürdig, und genau darauf zielt die Strategie der Dardennes ab, erweist sich nun die Art und Weise, wie im Film die aktuellen gesellschaftlichen Probleme aufgegriffen werden. Etwas plakativ wird im ersten Drittel von „Lornas Schweigen“ das kapitalistische Tauschverfahren inszeniert. Die explizite zur Schaustellung der Rituale der Konsumgesellschaft – dem Tausch von Geld und Dienstleistung/Waren – hämmert die Klage über das unmenschliche Verhalten des herrschenden Systems in die Welt. Im Kontrast dazu steht das humanistische Ideal, das Lornas Handeln zugrunde liegt, nachdem sie in Claudy den Menschen erkannt hat. Ihre ganze Existenz wird dadurch in Frage gestellt, da sie doch ihren Traum dadurch finanziert, dass sie vorgibt, echte zwischenmenschliche Beziehungen staatlich sanktionieren zu wollen. Der Konflikt zwischen Staat und Individuum, der durch die albanische Herkunft Lornas, den Schauplatz des europäischen Belgiens und die sozialen und nationalen Unterschiede der Bräutigame angereichert wird, macht die geringfügige Kopflastigkeit von „Lornas Schwiegen“ aus.

    Fazit: So ausgefeilt das Drehbuch, für das der Film in Cannes eine Auszeichnung bekommen hat, von „Lornas Schweigen“ auch sein mag, predigt der Film doch eine recht einfache Moral. Obwohl das Drama die aktuelle politische Situation der belgischen Gesellschaft kritisch aufgreift, wird ganz allgemein für mehr Menschlichkeit geworben. An dieser Stelle spricht sicherlich der studierte Philosoph Luc Dardenne mit der ausgereiften Sprache des Dramaturgen Jean-Pierre Dardenne. Dadurch und durch die dichte, intime Atmosphäre der realistischen Inszenierung und des grandiosen Spiels der Schauspieler wird der erhobene Zeigefinger jedoch zu einem ästhetischen Vergnügen.

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