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    "Man muss wissen, wo man am Ende hinwill": Die "1899"-Macher über gute Mystery-Unterhaltung und das Finale von "Lost"
    Markus Trutt
    Markus Trutt
    -Redakteur
    Vom Spurenverwischen mit Dexter bis zu Weltraum-Abenteuern mit Picard. Markus hat ein Herz für Serien aller Art – und schüttet es gern in Artikeln aus.

    Nach „Dark“ ist auch die neue Netflix-Serie von Baran bo Odar und Jantje Friese ein voller Erfolg. Vor dem Start von „1899“ hat uns das Duo einen Besuch in unserem Büro abgestattet und mit uns über ihr Mystery, Heimatgefühle und Humor gesprochen.

    Netflix / Rasmus Voss

    Mit der ersten deutschen Netflix-Serie „Dark“ haben Regisseur Baran bo Odar und Autorin Jantje Friese zwischen 2017 und 2020 Mystery-Fans rund um den Globus begeistert. Umso gespannter hat nun alle Welt auf den Start ihres Nachfolgeprojekts „1899“ geblickt – der von einer entsprechend großen und kräftezehrenden Promo-Tour begleitet wurde. Trotzdem haben sich Odar und Friese an deren Ende noch die Zeit genommen, um höchstpersönlich in unserem Berliner Büro vorbeizuschauen und sowohl mit FILMSTARTS als auch mit den hier ebenfalls beheimateten Kolleg*innen von Moviepilot etwas ausführlicher über ihr neues „Baby“ zu plaudern.

    Wir haben die Gelegenheit genutzt, um das Duo über die Herausforderungen des Mystery-Genres, den Reiz des Reißausnehmens und den erfrischend rar gesäten Humor in ihren Serien auszufragen – und ihnen vorzuwerfen, dass FILMSTARTS-Redakteur Markus dank ihnen und einer besonders düsteren Szene in „1899“ nun Angst vor dem Volkslied „Die Gedanken sind frei“ hat...

    Webedia GmbH
    FILMSTARTS-Redakteur Markus mit Jantje Friese und Baran bo Odar sowie den Moviepilot-Kolleg*innen Esther und Max im Dreieck-Fieber

    FILMSTARTS: Erst einmal vielen Dank, dass ihr mir „Die Gedanken sind frei“ ein wenig kaputt gemacht habt. Immer wenn ich meinem Sohn das jetzt zum Einschlafen vorsinge, läuft mir direkt ein Schauer über den Rücken...

    Baran bo Odar: Ich habe das immer als negativen Song empfunden.

    Jantje Friese: Ich auch. Und er passt einfach thematisch sehr gut. In meiner Teenage-Theatergruppe haben wir den Song bei einer Produktion über Georg Büchners Leben geschmettert, obwohl wir alle nicht singen konnten. Und ich weiß auch nicht, ob das Stück gut war. Mir ist das Lied auf jeden Fall recht wertvoll.

    Baran bo Odar: Es hat einen der schönsten deutschen Texte, ob nun in poetischer oder gesungener Form. Aber ich habe dabei auch immer ein Bild vor Augen: Fünf Personen, die gefesselt an einer Wand stehen, vor ihnen das Bataillon mit den Gewehren und einer fängt dann an, dieses Lied zu singen, bevor sie dann erschossen werden. Deswegen ist es für mich eher negativ behaftet, wenn auch mit rebellischer Botschaft.

    FILMSTARTS: Mit dem Bild im Hinterkopf erscheint es mir jetzt vielleicht doch etwas zu früh, das meinem Sohn vorzusingen...

    Jantje Friese: Es hat ein bisschen was von Indoktrination – auf eine positive Art und Weise. (lacht)

    FILMSTARTS: Das hoffe ich doch.

    Vergebliche Flucht

    FILMSTARTS: Aber nun zur Serie selbst: Eure Hauptfiguren sind auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit und wollen einen Neuanfang wagen. Ist diese sehr klassische Vorstellung etwas, das auch für euch persönlich manchmal verlockend erscheint oder schon mal verlockend schien?

    Baran bo Odar: Ich habe einen persönlichen Bezug zu der Geschichte, weil meine Familie schon immer eine Auswanderfamilie war. Das geht weit zurück. Mein Großvater musste aus Russland flüchten und alle außer ihm wurden getötet. Ich habe einen Onkel, der mit 17 nach Amerika ausgewandert ist. Mein Vater ist nach Deutschland ausgewandert. Deswegen trage ich das Thema immer mit mir herum. Generell habe ich kein Heimatgefühl. Ich habe ja türkische und russische Wurzeln, bin in der Schweiz geboren, dann aber in Deutschland aufgewachsen. Und ich hatte nie das Gefühl, dass ich irgendwo angekommen bin. Und genau das finde ich gut.

    Jantje Friese: Bei mir ist das nicht ganz so. Besonders mit dem Älterwerden fühle ich mich meiner Heimatstadt sehr verbunden – was aber nicht bedeutet, dass ich jemals wieder dorthin zurückziehen würde. Aber ich merke einfach, wie mich meine Heimat beeinflusst hat und zu der gemacht hat, die ich bin.

    Der Auswandereraspekt oder dieses Abhauen-Wollen hingegen hat für mich etwas ganz interessantes Psychologisches. Man kommt in seinem Leben ja ständig an Momente, an denen man alles hinschmeißen will. Interessant daran ist aber, dass das Wegrennen nichts bringt. Du nimmst das Gepäck, deine Unzufriedenheiten, deine Probleme, deine Ängste immer mit und veränderst dich als Person nicht – egal, wohin du gehst. Und genau um die Frage ging es hier auch: Was nimmt man eigentlich mit, wenn man flieht?

    FILMSTARTS: Wie kam es aber dazu, dass ihr das Ganze jetzt wieder in eine Mystery-Geschichte verpackt habt? Hat sich Netflix das nach dem „Dark“-Erfolg gewünscht oder kam das ganz von euch?

    Jantje Friese: Die Geschichte ist schon viel, viel älter. Schon vor „Dark“ hatten wir ein erstes Konzept für „1899“. Das sah noch ganz anders aus, weil man immer durch einen langen Prozess geht, bevor man weiß, was man eigentlich erzählen will. Das aktuelle Konzept haben wir Netflix nach der ersten Staffel „Dark“ gepitcht, die es supergut fanden. Und da war es auch schon ein Mystery-Projekt.

    Baran bo Odar: Aber es hat sich stark gewandelt. Es ist durch viele Genres gegangen und war nie ein reines Historiendrama. Es war immer irgendein besonderes Element drin. Wir finden Genre einfach gut, um größere Themen zu platzieren und philosophische Fragen unterhaltsam zu verpacken. Wenn Genre einfach nur den Plot bedient, ist das eher langweilig. „Dark“ hat ja auch einen Überbau und etwas Philosophisches. Was bedeutet Zeit überhaupt und was macht es eigentlich mit einem, wenn Zeit nicht linear verläuft? Und das haben wir auf eine Kleinstadt mit vier Familien geworfen, um zu gucken, wie ein Privatmensch mit sowas umgeht.

    Bei „1899“ war es ein ähnlicher Prozess. Wir sind eher spielerisch an die Grundidee mit den Auswanderern und ihrer dunklen Vergangenheit herangegangen, um zu gucken, wo wir eigentlich damit hinwollen. Aber das ist hauptsätzlich ein Gespräch zwischen Jantje und mir. Dabei sind wir dann auf eine große andere philosophisch-wissenschaftliche Idee gestoßen, die wir spannend fanden – und haben die einfach draufgepackt. Sobald man mindestens zwei Sachen mischt, die vielleicht auch nichts miteinander zu tun haben, werden wir sehr kreativ – oder zumindest denken wir das. Wir lieben einfach Genremischungen. Und gar nicht weil es cool ist, mal Komödie mit Horror oder sowas zu mixen, sondern weil es das Thema verstärkt.

    Das Geheimnis einer guten Mystery-Serie

    FILMSTARTS: Wie geht man bei Mystery eigentlich an die Herausforderung ran, welche Dinge man wann enthüllt?

    Jantje Friese: Das ist tatsächlich das Schwierigste von allem. Das sind auch Fragen, die wir öfter bei „Dark“ bekommen haben: Wie habt ihr das überhaupt hinbekommen, das so zu erzählen?

    FILMSTARTS: Vor allem so, dass es am Ende einen befriedigenden Abschluss gibt. Gerade bei Mystery läuft ja vieles gerne mal ins Leere, siehe „Lost“.

    Baran bo Odar: Das Ende von „Lost“ an sich ist eigentlich super. Es kam nur viel zu spät, gerade weil es vorher schon viele Fantheorien in diese Richtung gab. Es kam zu Enttäuschungen, weil es dann so aufgelöst wurde, wie viele sich das schon seit drei Staffeln gedacht haben.

    Jantje Friese: Und dann kam auch noch so viel dazwischen, was nicht mehr dazu gepasst hat. Es war eher das Problem, dass es so in die Länge gezogen wurde. Trotzdem ist es eine wahnsinnig gute Serie.

    Das Ende von "1899" erklärt – und was der Mega-Cliffhanger für Staffel 2 bedeutet

    FILMSTARTS: Aber sowas zieht selbst eine gute Serie auch ein wenig runter...

    Jantje Friese: Wir selbst sind bei unseren Serien natürlich auf einer anderen Seite. Wir wissen ja, wie es linear funktioniert. Wir kennen die Chronologie, nehmen das Ganze einfach nur und verknoten es ordentlich. (lacht) Und dann gucken wir dabei zu, wie es entheddert wird. Das ist jetzt auch bei „1899“ so. Wir wissen ja viel, viel mehr als das, was wir in der ersten Staffel an Informationen rausgeben. Das Ganze ist auch wieder auf drei Staffeln angelegt und das gibt einem genug Raum, die Mysterien dann auch aufzulösen. Man muss aber wissen, wo man am Ende hinwill. Weil im Ende auch immer die Triebfeder für den Anfang steckt. Sonst verrennt man sich und es fühlt sich nicht mehr organisch an. Dieses Informationsmanagement ist aber wirklich das Komplizierteste. Wann gebe ich welche Information? Wie viele Informationen kann ich wie lange zurückhalten?

    FILMSTARTS: Vor allem ohne dass es zu frustrierend wird. Es gibt zig Beispiele, wo man denkt, dass man doch jetzt mal zum Punkt kommen und zumindest ein paar Antworten liefern könnte.

    Jantje Friese: Es ist aber auch von Zuschauer zu Zuschauer unterschiedlich, wer was für ein Pacing an Informationen braucht. Da kann man jetzt auch nicht sagen: Das hier ist die Formel, man muss das so und so machen und dann sind alle zufriedengestellt. Es gibt immer Leute, für die es zu wirr, zu langsam oder zu schnell ist.

    Selbstironie: Fehlanzeige!

    FILMSTARTS: Wie schon „Dark“ ist auch “1899” erstaunlich humorfrei. Und das meine ich im allerpositivsten Sinne. Heutzutage kommt ja kaum eine große Produktion ohne Augenzwinkern aus. Wie schwer war es, der Verlockung zu widerstehen, das Ganze zwischendurch mal witzig aufzulockern? Oder kommt sowas für euch generell nicht in Frage?

    Jantje Friese: Humor wird ganz oft als Instrument dafür genutzt, dass sich der Filmemacher nicht die Blöße gibt, das alles selber zu ernst zu nehmen. Das ist zwar ein sehr interessantes Instrument, macht aber manchmal die Erzählung oder das Hineintauchen ein bisschen kaputt. Deswegen sind unsere Sachen vielleicht so düster und ernst. Aber das ist auch genau das Gefühl, das wir suchen, wenn wir selber was gucken.

    Baran bo Odar: Ich finde ja die Kohlebunker-Jungs eigentlich sehr lustig. Aber ja, nur zwei-, dreimal kommt was Lustiges vor.

    FILMSTARTS: Und das ist dann auch eher organisch und wirkt nicht so draufgepfropft.

    Baran bo Odar: Und ich gebe Jantje schon recht. Wobei etwa ein Tarantino den Humor nutzt, damit er die Gewalt rechtfertigen kann. Er hat die Idee, dass sich alle zerfetzen. Aber das kann er nicht so einfach machen, da ihm sonst noch Gewaltverherrlichung vorgeworfen wird. Deswegen bringt er so eine spielerische Leichtigkeit rein.

    Jantje Friese: Es kommt immer drauf an, was man erzählt.

    FILMSTARTS: Und bei euch sitzt so ein doch mal eingestreuter Meta-Gag wie die Zeile „Das hat man davon, wenn ein verdammter Deutscher die Scheiße hier regelt“ dafür dann umso mehr.

    Baran bo Odar: Der Satz wurde auch am Set gerne gesagt.

    Die "1899"- und "Dark"-Macher im Moviepilot-Podcast

    In unserem Interview schildern Baran bo Odar und Jantje Friese vor allem ihren ganz persönlichen Bezug zu ihrer neuen Mystery-Geschichte. Im Anschluss an unser Gespräch waren die beiden dann noch zu Gast im Moviepilot-Podcast Streamgestöber, um dort konkreter auf den Inhalt und die Geheimnisse von „1899“ selbst zu sprechen zu kommen. In das spannende Ergebnis könnt ihr hier reinhören:

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