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    Heute läuft einer der besten und emotional aufreibendsten Filme 2021 im TV – den kaum jemand gesehen hat!
    Sidney Schering
    Sidney Schering
    -Freier Autor und Kritiker
    Sein erster Kinofilm war Disneys „Aladdin“. Schon in der Grundschule las er Kino-Sachbücher und baute sich parallel dazu eine Film-Sammlung auf. Klar, dass er irgendwann hier landen musste.

    Ein Drama, das so zermürbend und aufwühlend ist, dass es erst ab 16 Jahren freigegeben ist. Eine übersehene Biografie über einen übersehenen Autoren: „Lieber Thomas“ ist großes Kino, das hoffentlich im Fernsehen sein Publikum findet.

    Nahezu einhellig positives Presse-Echo. Sensationelle neun Auszeichnungen und zwölf Nominierungen beim Deutschen Filmpreis. Und eine berührende Geschichte, gestärkt durch aufregende Performances – die aber kaum jemand im Kino erlebt hat: Das aufwühlende Drama „Lieber Thomas“ lockte nicht einmal 72.000 Menschen in die deutschen Lichtspielhäuser.

    Ein wahrer Jammer – denn nicht nur der berührende Film hat mehr Anerkennung verdient, sondern auch der rebellische Pop-Poet, von dem er handelt. Hoffentlich erreicht er nun ein größeres Publikum: „Lieber Thomas“ ist heute, am 13. Februar 2023, ab 22.25 Uhr bei arte zu sehen.

    "Lieber Thomas": Rebell, Poet und Underdog

    Thomas Brasch (Albrecht Schuch) wurde 1945 in England geboren. Anfang der 1950er-Jahre kehren seine deutsch-jüdischen Eltern in die alte Heimat zurück, aus der sie zuvor geflohen sind. Jetzt will Thomas' Vater Horst (Jörg Schüttauf) aber die junge DDR mitformen. Es ist eine staatstreue Sicht, die dazu führt, dass Thomas gegen die Ideologie seines Vaters aufbegehrt und Interesse an Poesie, Dramaturgie und Protest entwickelt.

    Als 1968 die Panzer der Sowjetunion durch Prag rollen, rufen Thomas und seine Freundin Sanda (Ioana Iacob) zu Demonstrationen auf – woraufhin Thomas ins Gefängnis gesteckt wird. Nach der Haftentlassung kann Thomas in der DDR keinen Fuß fassen, weshalb er mit seiner neuen Liebe (Jella Haase als kaum anonymisierte Katharina Thalbach) nach Westdeutschland geht. Er will Ruhm ernten, um Einfluss zu gewinnen – bleibt aber trotz Zuspruch eine kulturelle Randnotiz...

    Es war ein Lola-Durchmarsch, den bisher nur zwei andere Filme zu überbieten wussten: Beim Deutschen Filmpreis wurde „Lieber Thomas“ mit neun Preisen überhäuft, darunter den Trophäen für den besten Film, die beste Regie und das beste Drehbuch. Auch Albrecht Schuch und Jella Haase wurden für ihre fesselnd-einfühlsamen Darstellungen prämiert.

    Gemessen an der Reaktion der deutschen Filmbranche ist Andreas Kleinerts Regiearbeit also eines der stärksten deutsche Werke seit vielen Jahren. Auch die hervorragende 4,5-Sterne-Kritik bei FILMSTARTS und das Echo seitens des Feuilletons sprechen Bände. Insofern ist es bedauerlich, dass dieses in epochaler Länge ausgebreitete, in episodenhaften Häppchen erzählte Drama im Kino derart ignoriert wurde.

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    Andererseits ist es eine Form kunsthistorischer Poesie, die Bestätigung einer der vielen Thesen dieses Dramas: Drehbuchautor Thomas Wendrich behauptet zu keinem Zeitpunkt, den realen Thomas Brasch begriffen zu haben. Dieses Biopic legt unter anderem mittels elliptischer Erzählweise und allegorischen (Alb-)Traumsequenzen offen, bloß eine Interpretation des Dramaturgen, Schriftstellers und Filmschaffenden zu sein.

    Zu Wendrichs und Kleinerts Annäherung gehört das Urteil, Brasch würde unzureichend gewürdigt. Ja, er hatte Erfolge – doch es darf mit Verwunderung festgehalten werden, dass keiner von ihnen nennenswerte Halbwertszeit im Kulturbetrieb genoss. Beispielsweise hat zum Zeitpunkt dieser Artikelveröffentlichung kein einziges Buch Braschs einen eigenen Eintrag in der deutschen Wikipedia!

    Dafür wurde Brasch mit zwei filmischen Arbeiten zu den Filmfestspielen von Cannes eingeladen. Er drehte mit dem nicht zuletzt dank des zeitlosen Klassikers „Manche mögen's heiß“ und der Serie „Die 2“ hierzulande immens populären Tony Curtis. Jedoch wurde daraus ein krachender Flop.

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    Dass eine ehrfurchtsvolle, aber niemals in Lobhudelei ausartende Verneigung vor Brasch ebenfalls zur filmwirtschaftlichen Fußnote wird? Es ist unverdient, aber auf verkappte Weise stimmig – und da Brasch zu Lebzeiten fürchtete, sein Schaffen würde zur kommerziellen Ware verkommen, ist es vielleicht sogar beruhigend. Beruhigend ist zugleich, dass „Lieber Thomas“ trotz verschwindend geringer Kino-Reichweite außerhalb von Presse und Filmbranche Wellen schlug:

    Ein im Film gezeigter Brasch-Poesieband war nach Kinostart innerhalb kurzer Zeit auf dem Gebrauchtmarkt vergriffen und erhielt daraufhin endlich seine zweite Auflage – mehrere Jahrzehnte nach der Erstauflage. „Lieber Thomas“ berührte also ganz offensichtlich sein überschaubares Publikum und spornte es an.

    Emotionale Widerhaken, filmischer Vertrauensbruch

    Die nachhallende Wirkkraft von „Lieber Thomas“ ist vollauf verständlich. Denn Kleinert und Wendrich entfernen sich vom steif-unpersönlichen Duktus eines konventionellen Biopics, das Wendepunkte herunter rattert. Stattdessen kreieren sie eine zwischen kühl-harschem Realismus und gedankenversunkenen Impressionen schwankende Interpretation eines Lebens.

    „Lieber Thomas“ ist teils Charakterskizze über einen nachdenklichen Mann, der sich heimatlos fühlt: Das Land, in dem er groß geworden ist, ist herrisch regiert, kultiviert Empathieunfähigkeit und beschneidet die freie Meinung. Doch seine neue Heimat ist oberflächlicher als erhofft, und lebt soziale und wirtschaftliche Normen, die ihm widerstreben.

    Dieser Mangel an Heimatsgefühl setzt sich im familiären Umfeld fort: Sein Vater formte ihn durch Härte und Unverständnis. Seine Mutter ist leicht zu vergessen (und wird im Abspann nur „Mutter“ genannt). Diese Widerhaken äußern sich nicht durch sich langsame Eskalation, viel mehr ist „Lieber Thomas“ ein emotionaler Tod durch tausend kleine Nadelstiche.

    Diese durch interpersonelle Dramen markierte Charakterskizze ist zugleich ein deutsch-deutscher Geschichtseindruck ohne einfache Antworten: Die Flucht aus der DDR wird genauso nachvollziehbar eingefangen, wie anschließend Braschs Unwillen, über seine alte Heimat zu schimpfen.

    Diese Ausweglosigkeit, dieses unablässige intellektuelle und emotionale Abwägen ohne klares Ergebnis, ist packend sowie zehrend. Genauso wie Schuchs Spiel als Thomas Brasch, dessen Arbeit man schätzen lernt und dessen Lebensweg man verstehen will.

    Die Gefälligkeit, den im Film gezeigten Brasch zu mögen, gönnen uns Schuch, Kleinert und Wendrich dagegen nicht: Er zieht arrogant näselnd, ohne inhaltliche Argumente über Alfred Hitchcocks „Die Vögel“ her. Verballhornt freundliche Dozentinnen. Behandelt seine Geliebten wie Spielzeug. Und er schimpft dreckig über eine Schauspielerin, die gerade sein Stück probt.

    Es hat fast was von einem Vertrauensbruch: Da stecken wir Zeit und Zuneigung in diese Biografie, nur um dann alle paar Minuten rüde daran erinnert zu werden, dass echte Menschen nicht so sind, wie wir sie uns für leichten Eskapismus in Literatur, Film und Bühnenkunst wünschen.

    Ein Vertrauensbruch, der zwar unbequem ist, doch paradoxerweise diese vage Interpretation Thomas Braschs greifbarer macht. Und so enorm Interesse weckt, sich selbst in seinem Werk auf Suche nach Antworten zu begeben.

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