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    Einer der größten und ungewöhnlichsten Anti-Kriegsfilme der Geschichte kehrt ins Heimkino zurück
    Sidney Schering
    Sidney Schering
    -Freier Autor und Kritiker
    Ob Showtunes im Broadway-Stil, zuckersüße Teenie-Pop-Revue oder bluttriefende Rock-Party: Sidney hat eine Schwäche für Musicals, die ihn bereits durch allerlei cineastische Höhen und Tiefen geführt hat.

    Nicht alle Anti-Kriegsfilm-Klassiker müssen so aussehen wie „Nobi“ und „Komm und sieh“: „Hair“ ist das vitale Flowerpower-Kind unter den Anti-Kriegsfilmen – was keinesfalls bedeutet, dass es deshalb leicht zu schlucken wäre...

    Genres sind keine unüberwindbaren Gesetze. Sie sind Etiketten, die zur Orientierung dienen – und dazu einladen, dass man mit ihnen spielt, sich gegen sie auflehnt oder sie vermischt. Trotzdem gibt es Genres, bei denen sich viele Filmfans einen Mix einfacher vorstellen als bei anderen.

    Während der Thriller mühelos zum Horrorthriller, zum Actionthriller oder gar zur Thrillerkomödie verbogen wird, sorgen Musical-Genrehybride oft für verdutztes Staunen. Dabei gibt es viele Beispiele wie den Klassiker Hair“: Er ist im FILMSTARTS-Ranking der besten Musicals vertreten und einer der berühmtesten Anti-Kriegsfilme. Falls ihr ihn nachholen oder endlich eurer Sammlung zufügen möchtet, gibt es eine neue Gelegenheit: Diese Woche erhielt „Hair“ endlich seine Blu-ray-Neuauflage!

    Während die Blu-ray-Erstauflage von „Hair“ bereits seit längerer Zeit nur noch auf dem Gebrauchtmarkt zu finden ist, erschien 2021 eine 3-Disc-Mediabook-Edition*. Sie enthält auch eine DVD und eine Soundtrack-CD. Die neuste Auflage umfasst wiederum allein die Blu-ray – ist dafür aber günstiger!

    "Hair": Temperamentvoll, farbenfroh und eindringlich

    Claude (John Savage) lebt wohlbehütet in Oklahoma, wird aber zum Kriegsdienst in Vietnam eingezogen. Zuvor wird er in New York City auf seine Tauglichkeit geprüft – und trifft eine Hippie-Gruppe. Deren Lebensfreude und Anti-Establishment-Haltung ziehen Claude in ihren Bann, woraufhin er sich ihrer Kommune anschließt.

    Dort fühlt er sich besonders mit der jungen Sheila (Beverly D’Angelo) und ihrem Zimmergenossen Berger (Treat Williams) verbunden. Die kunterbunte, friedlich-rebellische Ablenkung hat allerdings begrenzte Halbwertszeit: Es kommt der Tag, an dem sich Claude zwischen Liebe in Schlaghosen und seinen patriotischen Impulsen entscheiden muss...

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    Der Anti-Kriegsfilm ist ein Genre, das nahezu zwangsweise von Angst, Trostlosigkeit, überwältigendem Kummer und Dreck geprägt ist. So entstanden drastische, unter die Haut gehende Filme wie „Komm und sieh“ und „Nobi“ (auch bekannt als „Feuer im Grasland“). Angesichts dessen, wie viele Kriegsfilme entgegen ihrer Kernaussage aufregend und aufpeitschend daherkommen, ist das auch ein dringend notwendiger Ansatz. Gleichwohl muss es nicht der einzige sein!

    Immerhin lässt sich Anti-Kriegsfilm nicht bloß als „filmisches Gegengift zu Problemen im Kriegsfilm-Genre“ verstehen. Sondern auch als filmgewordene Anti-Kriegsbewegung. „Hair“ schlägt in exakt diese Kerbe: Miloš Forman, der begnadete Regisseur hinter „Einer flog über das Kuckucksnest“, schuf einen Film, der energiegeladen und farbenfroh ist, seine Flowerpower-Mentalität aber kompromisslos politisiert, statt sich durchweg in eine friedliche Welt zu träumen.

    Als Vorlage diente das gleichnamige, sich provokant-energisch für Frieden, Liebe und Toleranz stark machende Rock-Bühnenmusical. Insbesondere dank seiner Evergreens „Aquarius“, „Let the Sunshine In“ und „Good Morning Starshine“ ist es eines der popkulturellen Destillate der Hippie-Ära schlechthin. Formans Film entstand allerdings mehrere Jahre nach dem Zusammenbruch dieser Bewegung.

    Diese 10 Stunden werdet ihr nie wieder vergessen: Das wohl größte Kriegsfilm-Meisterwerk aller Zeiten

    Als „Hair“ in die Kinos kam, wehte in den Staaten ein anderer Wind. Ronald Reagans Präsidentschaft wartete schon hinter der nächsten Ecke. Forman und Drehbuchautor Michael Weller erkannten die Zeichen der Zeit und schufen einen Film, der Revival, Nachruf sowie das Flehen um ein neues Erstarken des Peace-Aktivismus darstellt.

    Er lässt auch die willensstarke „Nieder mit der verklemmten Obrigkeit!“-Haltung neu aufleben, und wird der vibrierenden Hippie-Ästhetik gerecht. Allerdings würgt die „Hair“-Verfilmung mehrmals optimistische Töne ab. Flapsig, wenn eine berauschende Hippie-Kundgebung mit einem Bußgeld quittiert wird. Oder mit erschöpftem Sarkasmus.

    Vereinzelt wird emotionale Entrücktheit vom frohlockenden Treiben durch gedämpfte Arrangements oder distanzierte Aufnahmen forciert. Als dünke der Kamera, dass dieses bunte Dasein (vorerst) enden wird. Dann gibt es Sequenzen, in denen die Friedensbewegung gänzlich aus dem Fokus rückt und Forman mit gespenstischer Kälte die Menschen verschluckende Kriegsmaschinerie einfängt.

    „Hair“ schlägt nicht dermaßen bitter und langwierig in die Magengrube wie grafischere Anti-Kriegsfilme. Dennoch: Die Unaufhaltsamkeit, mit der „Hair“ von Love, Drugs, Peace & Rock'n'Roll zu seiner bitteren Erkenntnis schwebt, geht unter die Haut. So verneigt sich Forman vor einem Lebensgefühl. Unterstreicht die Gründe, weshalb es aufkam. Und hinterlässt eine eindringliche Mahnung: Wir dürfen nicht aufhören, uns für eine tolerante, gewaltlose Welt einzusetzen.

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