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    Renn, wenn du kannst
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Renn, wenn du kannst
    Von Björn Becher

    In ihrer bissigen Road-Movie-Satire Aaltra ziehen die belgischen Regisseure Gustave Kevern und Benoît Delépine als rüpelhafte Rollstuhlfahrer durch die Lande. Fast alle Menschen, die ihren Weg kreuzen, sehen wegen ihrer vermeintlichen Behinderung über das unsoziale Gebaren der beiden hinweg. So ist der Film nicht nur eine böse pechschwarze Satire, sondern bläst ins gleiche Horn wie ein bekannter französischer TV-Spot, der mit der Aussage endet: „Dieser Mann ist behindert. Aber er ist vor allem ein Idiot. Behinderte Menschen sind wie Du und Ich“. Auch Dietrich Brüggemann stimmt mit seinem zweiten Kinofilm „Renn, wenn Du kannst“ in diesen Tenor ein. Dies ist allerdings nur eines von sehr vielen Themen, die er in dem heiter-romantischen Drama aufgreift. Brüggemann, der das Drehbuch wie schon bei seinem Debüt „Neun Szenen“ gemeinsam mit seiner Schwester Anna schrieb, gelingt es über weite Strecken, den Film trotz dieser Vielzahl an Ideen und Motiven als Einheit zusammenzuhalten. Nur im letzten Drittel verhebt er sich einmal für kurze Zeit gewaltig, was seine glänzend aufgelegten Hauptdarsteller aber überspielen können. Und gegen Ende bekommt auch der Film wieder die Kurve.

    Ben (Robert Gwisdek) sitzt mit einer besonders schweren Querschnittslähmung im Rollstuhl und ist auf Betreuung angewiesen. Er ist auch ein Zyniker, der den Zivildienstleistenden, die sich um ihn kümmern, mit bösen Sprüchen das Leben zur Hölle macht. Und ansonsten geht Ben mit einem behindertengerecht umgebauten Oldtimer auf Touren. Dann wird ihm der neue Zivi Christian (Jacob Matschenz) zugeteilt. Der gibt Ben von der ersten Minute an Kontra, was diesem imponiert. Auf dem Weg zu Ben ist Christian mit der chaotisch-tollpatschigen Annika (Anna Brüggemann) kollidiert. Ben „kennt“ die Cello-Spielerin, er beobachtet sie seit zwei Jahren jeden Tag von seinem Balkon aus. Durch den „Unfall“ und ein paar absurde Folgeentwicklungen werden Annika, Ben und Christian dicke Freunde. Doch die Jungs verlieben sich beide in Annika, die ihrerseits beide auf eine jeweils andere Art anziehend findet.

    Schon in den ersten Minuten von „Renn, wenn Du kannst“ wird klar, dass die Geschwister Brüggemann kein gefühlsduseliges Drama vorlegen wollen. Die Sprüche und Aktionen von Ben sind bitterbös und schwarzhumorig, so dass kein Mitleid für den Protagonisten aufkommt. Stattdessen wird der Charakter mit hervorragend geschriebenen Sprüchen als Kotzbrocken eingeführt und der Zuschauer entwickelt erst nach und nach Sympathie für diese Figur. Die Dialoge sind das Prunkstück des Drehbuchs: Es wird viel geredet, auch viel Belangloses, aber nie Langweiliges. Wenn das Trio auf Bens Balkon sitzt und sich unterhält, erreicht der Film einige seiner Höhepunkte. Denn gerade in den Momenten, die die drei Protagonisten in Freundschaft zeigen, trifft Brüggemann das angemessene Verhältnis zwischen locker-heiteren und ernsteren Tönen. Hier kommt „Renn, wenn Du kannst“ dem wunderbar melancholischen und innigen Flair von Meisterwerken über die Freundschaft wie Absolute Giganten sehr nahe.

    Natürlich verlieben sich beide Männer in die schöne Annika, das ist eine fast schon unausweichliche Entwicklung. Trotz dieser genrebedingten Zwangsläufigkeit verfällt die Inszenierung fast nie in Klischees und Brüggemann bringt eine große Bandbreite emotionaler Momente zur Entfaltung. Eine „verhinderte“ Sexszene zwischen Ben und Annika ist hier das Prunkstück, denn die Figuren entblättern sich nicht nur äußerlich. Hier zeigt der Regisseur, dass er nicht nur das Unterhaltungshandwerk, sondern auch das große Drama beherrscht. Dass die Brüggemanns aber noch mehr wollen als „nur“ eine schöne und gefühlvolle Geschichte über Freundschaft und Liebe zu erzählen, schadet dem Ergebnis bisweilen. Da muss dann der Charakter Ben mit dem größtmöglichen Schuldkomplex beladen werden und der Film driftet für in eine Viertelstunde in übelste Klischees und platteste Dramatik ab. Gerade noch rechtzeitig kriegt man die Kurve und führt die Geschichte im Finale zu einem versöhnlichen und wieder erstaunlich klischeefreien Abschluss.

    Die Entdeckung des Films ist Robert Gwisdek. Der ist zwar im Filmgeschäft kein Neuling und stand schon als Kind in den Filmen seines Vaters Michael Gwisdek vor der Kamera, doch seine Kinokarriere beschränkte sich bisher auf Nebenrollen wie jüngst in der Uni-Komödie 13 Semester. In seiner ersten großen Kinohauptrolle brilliert Gwisdek nun gleich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist es eine Wahnsinnsleistung, einen an Tetraplegie leidenden Charakter so überzeugend zu spielen, dass man sich verwundert die Augen reibt, wenn man Gwisdek im wirklichen Leben aufrecht gehen sieht. Zum anderen schafft der Darsteller es von Anfang an, den weichen Kern hinter der harten Schale von Ben zu zeigen. Es ist sein großer Verdienst, dass die Figur dem Zuschauer ans Herz wächst, obwohl sie zunächst geradezu als Widerling eingeführt wird. Das Protagonisten-Trio wird durch Co-Autorin Anna Brüggemann (Mitte Ende August, Lulu und Jimi) und Jacob Matschenz (Vorstadtkrokodile, Zwölf Meter ohne Kopf) mit tadellosen Leistungen ergänzt. Auch ihre Figuren verkommen nicht zu Stereotypen und erreichen eine gewisse Komplexität.

    Fazit: Ben und sein Zivi Christian unterhalten sich während des Films immer wieder über die Entwicklung der Jugendsprache. Man sage heute nicht mehr „geil“, sondern „porno“. In diesem Sinne ist „Renn, wenn Du kannst“ über weite Strecken „voll porno“, aber auch deutlich gehaltvoller als sich dies anhört. Ein feiner junger deutscher Kinofilm und damit genau die richtige Eröffnung der Perspektive Deutsches Kino auf der Berlinale 2010.

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